Bericht
Dokumentar-Film-Kultur
Teil 2: Eigensinnige Filme
Soviel Umbruch war selten. Positionen, Manifeste und Petitionen zur Zukunft des deutschen Films bestimmen das Jahr 2018. Erwartungen an die Zukunft des dokumentarischen Arbeitens standen in Spannung zu bisherigen Erfahrungen mit den Wirkungen der Digitalität in diesem Symposium.
FilmemacherInnen beschrieben, was nicht mehr funktioniert und wie sie sich Kommendes vorstellen und wünschen. Das Denken im Zusammenhang war gefragt. So ergaben sich immer wieder Querverbindungen zwischen den vier Themenbereichen des Symposiums: der Wahrnehmung/Aufmerksamkeit im Netz, der Filmbildung, der Autorschaft und der dokumentarischen Ästhetik. Online clashte mit Anwesenheit, analog mit digital und Verfügbarkeit mit Verknappung, Chancen mit Problemen.
Die nachfolgende Zusammenfassung wechselt zwischen der Beschreibung von formulierten Positionen / Einsichten und ihrer Strukturierung. Eine Verweildauer von 15 Minuten zum Online-Lesen wird vorausgesetzt ….
Vereinbares und Unvereinbares zu verbinden heißt komplementär denken
Alle im Symposium artikulierten Überlegungen zeigen, dass sich die „Landschaft“ de facto im Umbruch befindet. Die Unsicherheit ist nicht nur gefühlt, sondern real. Die öffentlich-rechtlichen Sender, bislang größte Auftraggeber, verlieren ihren Status. Die Kooperation von privatem Streaming-Sendern und öffentlich-rechtlichem Fernsehen könnte eine Ersatz-Option sein. Die Case Study anhand eines Films diskutierten Sabine Rollberg (WDR, arte) und Hanka Kastelicová von HBO Europe. Roger Gonin vom Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrand sieht einen deutlichen Rückgang der Sendervertreter auf dem Kurzfilmmarkt.
Die Verfügbarkeit von allem jederzeit im Netz, die als Errungenschaft der digitalen Welt den Usern nahezu unbegrenztes Filmsehen beschert, hat die Gewinnmöglichkeiten für Filmautoren (Dietrich Leder von der KHM in seiner Begrüßung „Das Netz ist nicht tauglich für Refinanzierung“), aber auch die Exklusivität der Vorführsituationen in Kino und Fernsehen ausgehöhlt. Mit Projektor über Land zu fahren, um Filmkultur zu verbreiten, das klingt heute wie eine Geschichte aus längst vergangenen, sprich analogen Tagen. Es gibt aber zahlreiche Undergroundformen immersiver Filmkultur, Präsentationen an unerwarteten Orten, die heute mit digitalen Bereitstellungen interagieren oder sie als Event flankieren. Überhaupt hat Film als Event guten Zulauf ebenso wie Kinos bei Festivals oder Sondervorführungen in Anwesenheit der Filmemacher. Solche Events finden sogar Resonanz bei Publika, die sonst nicht ins Kino gehen und eignen sich als Anlass für Filmbildungsveranstaltungen. Dies sind wiederum Möglichkeiten für Filmemacher, ein Auskommen unter veränderten Bedingungen zu finden.
„Film ist die wichtigste Kunstform seit 1895“ (Filmmuseum Wien)
Rüdiger Suchsland versuchte sich an einer Neudefinition des „Publikums“ jenseits seiner Funktionalisierung als bestimmbare Menge zahlender Personen in der üblichen Förderargumentation. Die Rede von „Publikumsfestivals“ grenzt strategisch Fachpublikum und Branchenprofis vom Publikum ab, das zu kulturfernen „edlen Wilden“ degradiert wird. Alternativ bot Roger Gonin für das internationale Kurzfilmfestival das Etikett „populaire“ an, ein Begriff, den man auf Deutsch ungern mit „volksnah“ übersetzt: Sein Festival sucht die größtmögliche Reichweite in der lokalen Bevölkerung und versteht das auch als Teil eines breitensportlichen Filmbildungsauftrags. Doch auch diese Art der Filmkultur arbeitet längst mit digitalen Dispositiven, mit Videos und Spielen im Netz, mit Anwenderprogrammen und online verfügbaren Filmbibliotheken oder wie das Filmmuseum Wien mit einer DVD-Reihe – auch wenn die DVD schon wieder „out“ ist, bevor sie je richtig „in“ war.
Filmbildung ist in Deutschland ein leicht anrüchiges Unterfangen, weil Kultur in Deutschland zuerst als Kultur der Literatur, Theater, Musik oder der bildenden Kunst verstanden wird. „Film gilt in der Politik nicht als Kultur“ (Gabriele Voss). Ein Theatersitz wird mit 900 € im Jahr subventioniert. Ähnliches ist für Kinos und Filmmuseen unvorstellbar. Alejandro Bachmann schilderte für Österreich, wie schwierig es war und wie viele Jahre es gedauert hat, mit Filmbildungsangeboten des Wiener Filmmuseums in die Mail-Verteiler der Bildungsinstitutionen zu kommen. Wer eine Filmbildungsinstitution aufbaut, muss Geduld haben und an den „Gatekeepern“ in den Ministerien vorbeikommen. Filmbildungsinstitutionen funktionieren am besten – so seine Erfahrung – lokal. Kein Rezept ist übertragbar. Immer prägen die Initiativen einzelner Aktiver das Bild einer Institution nach außen.
Besondere Bedeutung – so wurde weiter diskutiert - kommt der Filmbildung in Zeiten der Kurz- und Fake-News zu: Was ist an Bildern gemacht? Wie arbeitet Film? Was ist Wahrheit im Film? Diese Fragen werden durch die Bilderflut der Artefakte und Simulakren immer wichtiger. Die Zuschauer brauchen heute ein Verständnis davon, wie Filme gemacht werden und was es bedeutet, wie sie gemacht werden. Ein Bewusstsein für diese Unsicherheit ist bei jüngeren Zuschauern problemlos vorauszusetzen. Hier kann angesetzt werden und nicht nur dadurch, dass man Schüler Filme machen lässt, sondern auch indem Filmemacher ihre Filme mit SchülerInnen analysieren.
„Das Publikum schreibt seine Texte selbst“ (Rüdiger Suchsland)
In der Kunst wird, wie Lilian Haberer in ihrem Vortrag gezeigt hat, die Materialität des Digitalen selbst diskutiert: Das Ansehen einer digitalen Filmdatei ist am Rechner immer die Aufführung eines Zahlencodes. Es verschwinden so Galerie und Museum und der Verlust der Aura der Kunst wird kulturpessimistisch diskutiert. Aber das Sehen von Bildern via Interface eines Handys stellt eine „soziale Situation“ dar, wie das von einzelnen Künstlern begrüßt wird. Teils radikal, wie Hans Bernhard das auf die Slogans „the surface is the content“ und „leaving reality behind“ brachte. Die eigentliche Realität ist die (digitale) Halluzination.
Wenn man zudem begreifen will, was derzeit im Umbruch ist, dann scheint man um eine genauere technische Analyse dessen, was das Internet eigentlich ist, nicht herumzukommen. Die setzt Programmierkenntnisse voraus und die sind bei Filmemachern eher eine Seltenheit. Das gilt auch für juristische Kenntnisse, die bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen im Netz notwendig sind. So sehr Verbände dabei auch helfen können, juristisch ist immer die Einzelperson gefragt. Die Frage von Matthias Hornschuh „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“ beschrieb die Multiplikation der Anforderungen in der Digitalität treffend.
Lässt man die libertäre Utopie beiseite, unter der das Internet angetreten ist, und betrachtet das Netz als ein ökonomisches Feld, so ist man schnell bei der Dystopie eines ungebremsten Verteilungskampf ohne jede Regulierung, die den Global Playern, die inzwischen mehr Macht und Kapital auf sich vereinen als ganze Staaten, die ungebremste Ausweitung ihrer Macht ermöglichen. Das inzwischen eher neoliberal gewendete Credo von der Freiheit im Netz meint eben doch nicht die Freiheit der Andersdenkenden, sondern die Freiheit des Datensammelns und der Schöpfung von Gewinnen aus der Anwendung von Nutzerprofilen für Werbung aller Art: Das Netz ist im Begriff, in entscheidenden Funktionen das Spielfeld weniger Großkonzerne zu werden. Dagegen hilft – so der Netzkünstler Hans Bernhard, dem auch prompt widersprochen wurde – nur „Protektionismus“ gegen die Einflusssphären der drei großen Silicon Valley-Konzerne: d.h. der Aufbau europäischer Plattformen unter dem Schutz und der Förderung der EU. Ein Anfang scheint aus dieser Perspektive durch die Urheberrechtsschutz-Verordnung gemacht, so Matthias Hornschuh. Aber auch dagegen gibt es Widerstand unter den FilmemacherInnen, weil mit alten Mitteln einem ganz anders funktionierendes Feld begegnet werde. Sandra Trostel zitierte dazu Rufus Pollock: „Today in a digital age, whe owns information controls the future, and we face a fundamental choice between open and close“. Wer sich für Protektionismus, für upload-Filter oder Regulierungen entscheide, entscheidet für close. Das Gegenargument kam prompt: die großen Kauf- und Downloadplattformen haben längst selbst upload-Filter installiert, die zum Beispiel jede Erwähnung von Sex unmöglich machen.
Allerdings herrschte bei den Diskussionskontrahenten Einigkeit darüber, dass die Großkonzerne auf Spielregeln festgelegt werden müssten, z.B. Steuern zu zahlen und nicht länger Gewinne mit Inhalten zu machen, für die sie nichts zahlen. Wie schwierig das durchzusetzen ist, zeigt auch, wie wenig unsere Rechtsstrukturen mit denen einer globalen Vernetzung anfangen können. Eine Schutzmöglichkeit für freie Inhalte im Netz sind Creative-Common-Lizenzen, die jeden, der sich bei einem so geschützten freien Inhalt bedient, verpflichten, selbst eine solche Lizenz für sein Produkt abzuschließen. Die Strategien müssen sich im Netz jedenfalls fundamental gegenüber der bisherigen Praxis, die sich an Kino- und Fernsehauswertung orientiert, ändern.
„In meiner Freizeit mache ich Kunst (Sabine Herpich)
Die interessanteste Frage war, wie das Internet in Zukunft Gewinne generieren kann, von denen eine Dokumentarfilmkultur und die FilmemacherInnen sich ernähren könnten oder ob das überhaupt geht. Wie schmal bislang die Einkünfte aus Klicks sind, zeigen sowohl Auswertungen der Musikbranche (Deezer, Spotify), als auch der verschiedenen kleineren Streamingplattformen, wie beispielsweise realeyz – leider war Andreas Wildfang nicht da, um sich zum Thema zu äußern. Andererseits gibt es Einzelfälle, wo alte Filme über Plattformen wie mediaload.com Einnahmen erbringen. Youtuber leben generell nur davon, dass sie Werbeflächen sind oder Werbeflächen anbieten oder eigene Labels für T-Shirts oder Schminke aufsetzen. Eine Verlängerung des Privatfernsehens, die sich Dokumentarfilmer als Grundlage ihrer Arbeit nicht vorstellen wollen. Dokumentarfilme können auf Youtube allerdings sinnvoll zu Werbezwecken für die Filme oder ihre Macher eingesetzt werden. Mehr ist hier nicht zu erwarten.
Die Konkurrenz untereinander, die durch die Erosion der öffentlich-rechtlichen Finanzierungswege verschärft wird, ist vor allem für jüngere FilmemacherInnen prekär. Aufträge kriegt vorwiegend, wer schon Aufträge hat. Das Lamento dieser privilegierten Gruppe regte insbesondere die auf, die schon seit Jahren ohne Netz und doppelten Boden Kinodokumentarfilme drehen. Und für Sabine Herpich kommt eigentlich nichts Anderes mehr in Frage, als Filme selbst zu finanzieren und frei auf Vimeo zu stellen, damit sie gesehen werden.
Von prekären oder gefährlichen Verhältnissen war überall die Rede und in Matthias Hornschuhs 3G-Kategorisierung scheinen sich die Dokumentarfilmer immer eher für Glanz (Ruhm und Ehre) und Geilheit (das Projekt macht Spaß) zu entscheiden und nicht fürs Geld. Vor allem jüngere Filmemacherinnen wiesen darauf hin, dass man mit Phantasie und Kreativität alternative Geldgeber finden kann. Und auch Modelle, wie es in Zukunft möglich werden kann, mit Klicks Einkünfte zu generieren, hat beispielsweise der Netztheoretiker Rufus Pollock entwickelt.
Eine Eigenheit des Zuschauerverhaltens im Netz ist die „atomisierte Aufmerksamkeit“, wie Hans Bernhard das nannte. Viele Netz-Zuschauer brechen (Dokumentar-)Filme vor Ende ab, Verweildauern von Sekunden bis maximal 10 Minuten sind die Regel, wie Marcel Kolvenbach an Hand eines Charts erläuterte. Das stellt gewohnte und abendfüllende Längen auf den Prüfstand. Auch die Frage der Sichtbarkeit stellt sich in den digitalen Umfeldern ganz anders: In den Massen der Seiten und Filme im Netz gehen ganze Filmformen unter. Die Algorithmen spülen immer das meistgeklickte Ergebnis hoch – das war die erfolgreiche Kernidee von Google.
Auf der anderen Seite: die Verfeinerung der Userprofile durch Algorithmen, so erwartet Marcel Kolvenbach, machen es im Netz irgendwann möglich, für spezielle Audiences ambitionierte Dokumentarfilme zu machen. Für HBO Europe ist in dieser Hinsicht vorsichtiger Optimismus angebracht: Hanka Kastelicová produziert derzeit im Jahr 8 lange Dokumentarfilme mit Entwicklungszeiten von rund 4 Jahren, die sie als Redakteurin intensiv betreut. Auch für sie ist das lokale Interesse Ausgangspunkt für eine Geschichte, die dann global erzählt wird. Sie argumentiert weiter, dass mit dem Budget für Eigenproduktionen eine Bibliothek aufgebaut werden kann und lange Verweildauern von Filmen im Streamingdienst angestrebt werden. Das ist für DokumentarfilmerInnen interessiert. Die lange Verweildauer muss jedoch immer komplementär durch Events, Social Media oder auch Kinoreleases neu befeuert werden.
„Wir denken in einem Pre-Internet-Rahmen und versuchen, dieses System in eine Welt hineinzupressen, die gänzlich anders funktioniert.“ (Sandra Trostel)
Was immer verfällt, verloren geht, abhanden kommt: In allen Vorträgen und Workshops wurde klar, es hilft der Dokumentarfilmkultur nicht, sich gegen die neuen Verhältnisse und damit einhergehend die Verfügbarkeit der Filme im Netz zu stemmen. Filmsehen via Internet ist – so mangelhaft Kinobild und Kinoton auf dem Handy sein mögen – eine etablierte Form der Filmbetrachtung. Es bedarf deshalb einer offensiven Politik der Gestaltung, wie die Zukunft der Online-Präsenz von Dokumentarfilmen aussehen kann, die auch die veränderten Usergewohnheiten der jüngeren Publika nicht außer Acht lässt. Filmförderungsinstitutionen sollten sich auch für den Aufbau von kuratierten Onlineplattformen für geförderte Filme – auch älteren Datums - öffnen. Mediatheken müssen gestärkt und besser kuratiert werden. Aber leider besitzen viele Senderhierarchen nicht das Bewusstsein dafür, auf welchen Schätzen ihre Häuser sitzen, meinte Sabine Rollberg.
Tendenziell zielt die Netzrealität auch darauf, die Arbeit von Redakteuren überflüssig zu machen. Die Strukturen sind oftmals kleiner und flexibler, lassen den Filmautorinnen größeren Handlungsspielraum. Jeder Jugendliche kann heute Filme drehen und schneiden. Jede Protagonistin kann sich theoretisch selbst drehen. Jeder Mensch ist ein Künstler – das wusste schon Joseph Beuys – oder eben auch keiner mehr. Die „Demokratisierung der Produktionsmittel“, die weiter geht als beim Übergang von 16mm zu Videoformaten, wird gerade weil sich dahinter auch eine „Abwertung des Wertes künstlerischer Arbeit verbirgt“, wie Ulrike Franke ganz generell diagnostizierte, die Dokumentarfilmkultur verändern. Die anwesenden Filmemacherinnen und Filmemacher hatten allerdings weniger Angst vor dieser DIY-Konkurrenz als vor der Multiplikation der Filmhochschulen und ihrer AbsolventInnen. Grundsätzlich werden Produktionen außerhalb des bestehenden Fördersystems nicht mehr als Experimente begriffen, sondern als reale Möglichkeit für viele, vor allem jüngere Akteure.
„Wenn man tut, was man möchte, ist man immer erfolgreich.“ (Jonas Mekas)
Für die Onlinepräsenz von Filmen gibt es interessante Ideen. Dazu gehören die Online-Verlängerung von Festivalfilmen, aber auch radikale Forderungen nach Vollförderung von Dokumentarfilmen mit öffentlichen Geldern und anschließend die kostenfreie öffentliche Bereitstellung der Ergebnisse im Netz (Sandra Trostel) unter Umgehung der „middlemen“, der Verleiher. Nicht nur dieser Vorschlag setzt eine Umwidmung der bislang mindestens zur Hälfte als Wirtschaftsförderung deklarierten Filmförderung als reine Kulturförderung voraus. Das scheint im Moment politisch nicht durchsetzbar zu sein, wäre vielleicht aber eine Chance für die Filmförderungen, sollten sich einmal die Sender daraus zurückziehen. Die Einrichtung von Bezahlfunktionen, sei es im Sinne einer Rundfunkgebühr für Netzinhalte, sei es als abrechenbare Klicks auf Bereitstellungsportalen, schafft Einnahmemöglichkeiten, aber wie schon gesagt, derzeit mit sichtbaren Grenzen. Und auch das im Frühjahr beim Frankfurter Lichterfestival von Helmut Herbst geforderte bedingungslose Grundeinkommen für Dokumentarfilmemacher kam in der Symposiumsdiskussion wieder zu seinem Recht.
Als Manko wird empfunden, dass die DokumentarfilmemacherInnen zu schlecht vernetzt sind, das Gefühl, auf verlorenem Posten zu kämpfen, kannten viele Diskussionsteilnehmer. Generell gibt es überhaupt großes Misstrauen gegen Verbände und Institutionen. Daraus ergaben sich zwei Grundpositionen. Die Realo-Position, vorwiegend vertreten von FilmemacherInnen, die bereits in Produktionen erfahrener sind und die Arbeit in Verbänden und Institutionen kennen, war mehr an realpolitischer Schlagkraft interessiert. Dagegen stand die „Fundi“-Position einer deutlich jüngeren Gruppe, die sich im Zeichen der Utopien zusammenfand, die jenseits etablierter Strukturen gefunden werden müssten.
Beiden gemeinsam ist, dass sie einen Raum (im Sinne eines unabhängigen Ortes) vermissen, in dem man gemeinsam über Perspektiven reden kann. Einmal im Jahr ein Symposium sei einfach zu wenig. Bedauert wurde von den Realos, dass in Köln beispielsweise das Lux-et nicht zustande gekommen ist und das Filmhaus trotz der Ankündigung der Kulturamtsleiterin, Barbara Förster, bislang nicht neu aufgestellt wurde.
Der geforderte Raum könnte, so die Realo-Vorstellung, dazu dienen, sich zu treffen, die Vereinzelung zu überwinden, politische Schlagkraft zu entwickeln, aufgrund der dezentralen Aufstellung der deutschen Filmlandschaft ein Problem. Allerdings kam auch der Einwand, dass es solche runden Tische bereits zahlreich in diesem Jahr gab, die oft genug zu Konsens führen, aber nicht zu gemeinsamen Aktionen. Es wurde deshalb angeregt, als Raum zeitgemäß einen Chatroom einzurichten, in dem die Diskussionsteilnehmer unter Ausschluss der Öffentlichkeit Tipps, Adressen, Websites austauschen und vor allem über die räumlichen Distanzen hinweg diskutieren können. Möglichst nicht auf Facebook. Vielleicht angegliedert an die AG Dok – die für junge Filmemacher aber einfach zu teuer sei und deshalb bislang nicht infrage kommt – oder an die dfi.
Die Utopiegruppe ging weiter in den Forderungen nach einem „transdisziplinären Think Tank“, der in Unabhängigkeit von bestehenden Institutionen neue Konzepte des Dokumentarfilms erarbeiten soll und an dem möglichst auch Programmierer, Bibliothekenvertreter und Wissenschaftler teilnehmen sollen. Man müsste in diesem Think Tank auch die Szenarien anderer Ländern zu Rate ziehen (Micro Cinema Culture NY) und nachdenken darüber, ob man nicht eigene Algorithmen programmieren sollte, die Diversity und Equality miteinrechnen. Angeregt wurde auch die Bildung von Werkstätten, Kollektiven und Filmgenossenschaften, die sowohl neue Filme produzieren, als auch gemeinsam ein Internet-Publikum aufbauen und neue Formen der Refinanzierung mitdenken. Unklar blieb, wie ein solcher Think Tank finanziert und von wem er gebildet werden soll, es gab aber den klaren Auftrag, dies in einem neuen Symposium weiterzudenken, in enger Zusammenarbeit mit den bereits bestehenden Institutionen. Und die klare Aufforderung „use hacking as a mindset“ (Sandra Trostel).
Der Wunsch nach Gemeinschaft, nach kollektiver Aktion war überall spürbar, als Reaktion auf die Macht bestehender Strukturen und aus dem Wunsch nach „Anwesenheit“. Digitale Strukturen scheinen das Bedürfnis nach komplementären Strukturen der Begegnung auch von Filmvorführungen als Gegenpart zur akzeptierten OnlinePräsenz der Filme zu stärken.
„Ich maße mir an vorzugeben, wie man meine Arbeit am besten wahrnehmen könnte“ (Arne Schmitt)
Im Workshop 4 ging es vornehmlich um die Frage, wie sich die dokumentarische Ästhetik durch die Digitalisierung ändert. Der Künstler und Fotograf Arne Schmitt findet es albern, von der Wahrhaftigkeit der analogen Fotografie zu sprechen. Er kontextualisiert das einzelne Bild entweder durch die Annotation von Texten oder durch serielle Anordnungen. Im Netz, das nun mal die größtmögliche Verbreitung garantiert, kanalisiert er trotzdem die Präsenz seiner Bilder, kontrolliert ihre Präsentation, bevorzugt aber den Ausstellungsraum und den gedruckten Katalog. Seine Frage: Was sieht man wann und wo in einem Bild, je nachdem wie und in welchem Kontext es präsentiert wird? Das verändere jeweils seine Lesart. Er besteht außerdem darauf, dass auch die digitale Aufnahme und Reproduktion der Fotografien möglichst übersichtlich und damit von ihm kontrollierbar bleibt.
Ganz anders beim 2. Impuls zu VR, 360 Grad und Augmented Reality. Zum Teil zum ersten Mal setzten TeilnehmerInnen des Workshops die VR-Brille auf, um zu erleben, wie sich der visuelle Sehraum von 360 Grad in eine körperliche Erfahrung einprägt. Viele mussten sich am Tisch festhalten oder sich hinsetzen. Jörg Haaßengier, der die Brillen und Smartphones vom WDR besorgt hatte, berichtete, wie die Kameraaufnahmen entstehen, wie montiert, wie ein Interview geführt wird. Dabei steht die Technik im Vordergrund und auch die Vorgaben von Designern und anderen Gewerken, die zum Endprodukt beitragen, beeinflussen das Konzept der Filmemacher. Begrenzungen in der Länge und in der Dramaturgie entstehen ebenfalls durch das Datenvolumen. Deutlich wurde, dass jede Produktion ein ausgefeiltes Konzept benötigt und Entdeckungen während eines Drehs nicht mehr integriert werden können.
Für ihn ist die Simulation des Miterlebens eines Traumas nicht der entscheidende Punkt bei dieser Technik, sondern die Nähe zu den Protagonisten. Man sei der Geschichte allein ausgeliefert, sie emotionalisiere nicht unbedingt, aber sie greife einen anders an.
Christoph Hübners beschrieb in seiner Einführung zu Anfang des Symposiums eine dokumentarische Kultur des Films bestehend aus Neugier, Offenheit, Selbstreflexion, dem Zulassen von Unsicherheit, Geduld und Anwesenheit. Diese Dokumentarfilmkultur wird, das wurde deutlich, im Kontext der Digitalisierung keineswegs überflüssig. Sie verbindet sich neu mit und durch die Technik und ist als Grundverständnis der FilmemacherInnen aktuell wie nie.
Die Zusammenfassung von Marcus Seibert und Petra Schmitz beruht auf den Berichten der ModeratorInnen aus den Workshops: Marcel Kolvenbach, Alejandro Bachmann, Luzia Schmid/ Sandra Trostel und Fritz Wolf; außerdem auf den Protokollen von Lisa Smekens Rojas und Fabian Hengstmann.
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