Nachlese
Tagung »Etwas wird sichtbar ... Schule und Bildung im Dokumentarfilm«
27. - 29. Mai 2010, Filmforum NRW, Köln
Ist Schule im Dokumentarfilm darstellbar? –
war eine Leitfrage der Tagung. Auf welche Erwartungen trifft die filmische Darstellung und welche Wirkungen hat sie? Häufigste Darstellungsweise von Kindern und Jugendlichen in der Schule ist die Einbeziehung des familiären Hintergrunds einzelner Protagonisten, um mehr zu verstehen von ihren Handlungsweisen und ihrer Motivation in der Schule. Dies stellte sich während der Tagung als autorisierter Diskurs der dokumentarischen Darstellung dar, der von den Zuschauern in der Regel auch in einem Film zur Schule erwartet wird. Filme, die sich konzentrierten auf das Unterrichtsgeschehen oder auf die Interaktion zwischen den Schülern, erhielten entsprechend häufig Nachfragen und Kritik.
Abwesende Väter, präsente Mütter, die sich entweder zu viel oder zu wenig um die die schulischen Belange der Kinder kümmern, prägten des weiteren die Bilder, obwohl es doch eigentlich um Schule ging. Visuell nachvollziehbar wurden die strukturellen Änderungen in der Familie aufgrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Anforderungen, die sich schließlich direkt in der Schule niederschlagen und diese überfordern, auch das war zu sehen, da ihre Ausrichtung (noch) nicht mit den familiären Änderungen korrespondiert. Sozialpädagogische Maßnahmen, Streitschlichtungs- und Konfliktbearbeitung neben dem Unterricht, kulturelle Bildung sind schulische Angebote, den Defiziten der familiären Erziehung zu begegnen.
Die hohen professionellen Anforderungen an die filmische Darstellung von Schule und ihre unterschiedlich gewählten Perspektiven standen ebenfalls im Mittelpunkt vieler Gespräche. Genauso wie das besondere Schutzbedürfnis in der Darstellung von Kindern und Jugendlichen. Alle gezeigten Filme überzeugten durch ihre Vielschichtigkeit und Prägnanz. Die Tagungsteilnehmer reagierten häufig nah an deren filmischen Aussagen, ehe Fragen zur Herstellung, zum Schnitt, zum Fokus, die filmische Auflösung die Filme einordneten und ihre Entstehung transparent machten. Erkennbar wurde, dass viele der Filme wegen des hohen zeitlichen Einsatzes entweder Auftragsproduktionen, Abschlussarbeiten von Filmhochschulen oder von der Filmförderung einigermaßen ausgestattet sein mussten, um realisiert werden zu können.
Ist die Nahinstanz Schule weiterhin ein attraktives Thema für Dokumentarfilmer? Filme gibt es jedenfalls genug und es zeichnen sich weitere Themenkonjunkturen am Horizont ab. Dabei wird in Zukunft vielleicht häufiger das Bildungserleben selbst (das als Thema in den Tagungsfilmen ebenfalls vorkam) im Mittelpunkt stehen: die filmische Darstellung von (integrierenden) Lernmethoden und frühkindlicher Erziehung.
Siehe ergänzend Inhalte der Tagungsfilme
Siehe ergänzend Inhalte der Filmrecherche zum Thema Schule und Bildung
Jai Wanigesinghe (Regie "Menschenskinder"):
„Mich interessiert das Thema, seit die Wellen durch die Medien gingen, dass die Kinder heute nicht so sind, wie wir sie gerne hätten.“
„Wie gehen wir mit Kindern um, wenn sie aggressiv sind, von Seiten der Schule. Das ist unser Ansatz im Film. Das war von meiner Seite ein Film über eine Schule, die mit Kindern anders umgeht, sie stärkt und die nach Lösungen sucht.“
Christoph Graffweg (Leiter der Fröbel-Schule, Bochum):
„Zwischen Kamera und Schule besteht ein großer Unterschied. Frau Müller hatte eine Beziehung zu den Jugendlichen. Diese Beziehung habe ich nicht, ich bin Vertreter der Institution Schule und ich erwarte bestimmte Dinge von ihnen. Für mich hat der Film gezeigt, dass Kinder Probleme haben mit den Eltern, sich zu offenbaren. Dass es aber anders geht, zeigen ihre Beziehungen zu den Gleichalterigen. Frau Müller ist akzeptiert worden, weil sie nichts erwartete.“
Eva Müller (Regie: "Die Hartz IV-Schule"):
„Gewalt bleibt im Film im Hintergrund, obwohl Gewalt die Ursache ist für viele Probleme der Jugendlichen. Es wird im Film auch so klar, dass sie damit zu tun haben. Das ist aber nicht das Hauptproblem an der Schule.“
Claudia Indenhock (Regie: "Wir leben im 21. Jahrhundert"):
„Ich habe gemerkt, dass sich in der Schule nicht das ereignete, was ich mir gewünscht hätte. Das war nicht der Hauptpunkt für diese Jugendlichen, so dass ich dann in die Familien gegangen bin, um zu verstehen."
Prof. Oevermann:
„Der Film zeigt ja, obwohl er es nicht reflektiert, dass Jugendliche darunter leiden, unter bestimmte Schemata subsummiert zu werden. Und das geht heute nicht mehr. … Dass unter diesen Bedingungen überhaupt gelernt wird, ist nur der Robustheit der Kinder zu verdanken.“
„Schüler treten in eine Vergemeinschaftung ein, wenn sie in eine Klasse kommen. Schüler wissen alles voneinander. Darum gibt es Klassentreffen, zu denen man hingeht, obwohl man sich nichts mehr zu sagen hat, weil es einmal diese Gemeinschaft gab.“
Gudrun Hanke-El Ghomri (SWR-Redakteurin "Beruf: Lehrer"):
„Wir wollten bei diesem Film Konflikte und Gewalt bei Kindern drin haben und haben dieses Thema über die Schlichtungsgespräche angesprochen. … Etwas war wichtig, dass wir Schüler schützen, indem wir überlegen, wie wir sie darstellen, was wir zeigen und was nicht.“
Isabelle Bourgeois (Vortrag "Schule als Projektion der Republik"):
„Was wir sehen ist das, was wir bemerken.“
„Das allgemeinbildende Gymnasium ist filmisch nicht interessant. Die besten Schüler und Schülerinnen sind dort. Da geschieht nichts, also kommt es im Film nicht vor. Das filmische Gymnasium in Frankreich ist die Berufsfachschule (Lycée professionel). Die Situation dort kann man mit der Debatte um Unterschichten verbinden.“
„In Frankreich verbindet sich Schule mit dem Traum vom sozialen Aufstieg. Deshalb war der Film ‚Être et Avoir’ so beliebt (2 Mio. Zuschauern im Kino). Obwohl es die Zwergschule nur noch in rund 8.000 ländlichen Gemeinden gibt, sind Generationen davor aus dieser Schule gekommen. Allein diese Schule verkörpert noch den Inbegriff des Prinzips égalité.“
Uli Kick (Regie "Klassenkampf"):
„Für mich ist eine Schlüsselstelle des Films, als der Hausmeister den Schüler abholt, in der Tür steht und sagt ‚Ja, die Mama.’ D.h. die Mutter schickt den Jungen nicht in die Schule. Ich hatte den Eindruck, dass sich die Eltern nicht um die Kinder und die Schule kümmern, dass es Ihnen egal ist, wo sie rumhängen. Dass die Eltern nicht vorkommen, ist Teil der Geschichte.“
Renate Stegmüller (BR-Redakteurin "Klassenkampf"):
„Was mir schon bei der Abnahme des Films auffiel, ist die Haltung der Erwachsenen zum Berufsleben. Der Meister beim Firmenbesuch der Klasse, der Trainer des Arbeitsamts, keiner sagt, dass es Tätigkeiten gibt, die Freude bereiten, in denen man sich beweisen kann. Die kriegen von allen Erwachsenen gesagt, Berufsleben ist furchtbar.“
Brigitte Klos (ZDF-Redakteurin "Das Jahr der Entscheidung"):
„Es gab eine extreme Reaktion auf den Film: viele Mails und Anrufe. Auch aus Bayern. Wir hatten für den Film Schulen aus Bayern gewählt, weil die Empfehlung der Schule bindend ist, welche Schule das Kind ab der 5. Klasse besucht. Ich hatte das Gefühl, die haben jetzt erst bemerkt, dass das Leben der Kinder so aussieht.“
Gudrun Hanke-El Ghomri:
„Vor den Pisastudien war das Thema Schule filmisch nicht unterzubringen. Es hieß: Man sieht nur Klassenzimmer. Das Thema verband sich eventuell auch mit den eigenen schlechten Erinnerungen an die Schule. Jetzt ist man in den Redaktionen offen. Es ist immer wieder wichtig, einen neuen Ansatz zu finden für einen langen Dokumentarfilm, der sich von der aktuellen Berichterstattung unterscheidet.“
Jutta Krug:
„Die Tatsache, dass wenige Themenvorschläge zur Schule auf meinem Schreibtisch liegen, gibt mir zu denken. Ich glaube, dass das Thema für die Filmemacher als unergiebig, als mühsam empfunden wird, inklusive der Einholung aller Elternerlaubnisse und der Genehmigung der Schulbehörde. Um Entwicklungsprozesse bei Kindern deutlich zu machen, braucht man viel Zeit. Ich habe verschiedentlich Schulthemen vorgeschlagen, die nicht zustande gekommen sind.“
Brigitte Klos:
„Meine Erfahrung ist, dass Schulthemen gut angenommen werden und ein feedback erzeugen. Das Problem der redaktionellen Ebene in den Häusern ist vielleicht das Unsystematische.“
Oliver Rauch (Regie "Jedem Kind ein Instrument"):
„Für mich war es faszinierend zu sehen und Anlass daran zu glauben, darüber einen Film zu machen, was in den Unterrichtsstunden passiert. Die Momente der Faszination und des überspringenden Funkens bei den Kindern, die Musikinstrumente kennen lernen und wie sie darauf reagieren, auf jeden Fall so, dass sie mehr wollen. Das war da. Und ich war gespannt, was mit den Kindern weiterpassiert, und das war der experimentelle Teil, ob die Kinder weiter mit den Instrumenten beschäftigt bleiben.“
Barbara Burger (Regie „Wenn ich eine Blume wäre“):
"Es ist einer der Gründe gewesen, weshalb ich diesen Film über meine Kinder in der ‚Kleinklasse’ machen wollte. Weil ich das oft schade finde, dass nur negativ oder eben komisch über diese Kinder berichtet wird und ich finde die leisten eigentlich ganz viel, auch wenn sie einem manchmal auf die Nerven gehen. Aber die machen sehr viel Arbeit und das wollte ich einfach erzählen."
Betty Schiel (Regie „Lena, Stella, Ümmü und die anderen“):
"Mir ging es um die Kinder an der Förderschule. Ich wollte Portraits machen von den Kindern und diese Kinder kennen lernen und ich wollte die, wenn es irgendwie ging, sympathisch portraitieren … Das sind behinderte Kinder, das sind Migranten, über die wird Gott weiß was geschrieben … Deswegen dachte ich, ich lass die jetzt mal selber zu Wort kommen."
Calle Overweg (Regie „Da kann noch viel passieren“):
"Die Identifikation kommt aber, wie ich finde, dramaturgisch oft durch den Off-Text. Es gibt zum Beispiel die Szene mit Paul bei dieser Elternbesprechung. Das ist ein ganz sparsamer Kommentar, da sagt er, glaube ich, „Elternsprechtag, wer das erfunden hat“. Und nur durch diesen kurzen Kommentar, es ist eigentlich ein dramaturgischer Kniff, ist man als Zuschauer vollkommen bei ihm und erlebt das wie er als Opfer. Wenn man das weg lässt, dann denkt man nur, was ist denn mit dem Jungen los, warum hängt der da so in der Ecke. Also dieser Kommentar ist tatsächlich für die Identifikation und für das Einnehmen der Perspektive der Person, die da zu sehen ist, unheimlich wichtig, das stimmt."
Bernd Sahling (Regie „Ednas Tag“):
"Wie schafft man es, so eine kurze Erzählweise zu finden, die man auch Kindern zumuten kann, ohne die ganze Geschichte zu vereinfachen. Und da ist Edna wie so ein Katalysator in die Klasse gekommen ... die auch die große Unbekannte ist und geblieben ist … Und dadurch ist es auch so ein Gruppenportrait geworden, was passiert da in der Klasse, und die anderen geben ja eigentlich mehr preis von sich als Edna selbst."
Fotos: Betty Schiel, Redaktion Nachlese: Petra L. Schmitz