Protagonisten im Dokumentarfilm
Menschen in Versuchsanordnung
Über die veränderte Rolle von Protagonisten in dokumentarischen Formaten
Vortrag von Fritz Wolf
Dokumentation des Symposiums von September 2006 in Köln
Als das Thema geplant wurde, war von Natascha Kampusch noch nicht die Rede. Außer einigen Leuten in Österreich kannte niemand die junge Frau und ihr Schicksal. Heute kennen es viele in der ganzen Welt. Jetzt ist Natascha Kampusch auch eine – unfreiwillige – Fernseh-Protagonistin, deren kurze und hysterische Medien-Geschichte eine ganze Reihe der neueren Fragen stellt.
Zum Beispiel: Wer kontrolliert in den Medien eigentlich noch wen? Ist tatsächlich ein Zustand erreicht, in dem niemand sich den Anforderungen und dem Druck der Medien mehr entziehen kann und die Flucht nach vorn der einzig gangbare Weg scheint? Wann ist jemand Partner der Medien, wann ihr bloßes Objekt? Ob es sein könne, fragte der Medienbetreuer der jungen Frau, dass ein 18-jähriges Opfer sich nicht mehr aussuchen kann, ob es von den Medien in Ruhe gelassen wird oder nicht?
Hier hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der schon mehrfach beschrieben worden ist: nicht die Abweichung vom Normalen hat sich zu rechtfertigen, sondern das Normale. Wer vom Fernsehen in Ruhe gelassen werden will, muss das ausführlich begründen. Und wer das Pech hat, eine Geschichte erlebt zu haben wie Natascha Kampusch, der kann auch das nicht mehr.
Einige Kriterien, die für jeden Umgang mit Protagonisten eine Rolle spielen, sind da über die Wupper oder besser: über die Donau gegangen: Diskretion, Intimität, Selbstbestimmung. Muss man nicht den Schluss ziehen, dass es zum wichtigsten Wert werden kann, unter bestimmten Umständen für die Medien nicht verfügbar zu sein? Und war der Fall Natascha Kampusch geschah, ein klassisches Beispiel für einen Menschen in einer Versuchsanordnung? Bettina Gaus schrieb in der taz: „Der Respekt vor der Privatsphäre von Natascha Kampusch und vor ihrer Autonomie ist nicht größer als die Achtung, die Seriendarstellern in ihren Rollen entgegengebracht wird. Die 18-Jährige wird begutachtet, als handle es sich um ein Experiment im Labor.“
Menschen in Versuchsanordnung also. Die Urmutter aller medialen Versuchsanordnungen war die Container-Show „Big Brother“. Wie ein chemisches Experiment. Eine geschlossenes Labor, eine Aktion-Reaktions-Kette mit festgelegten Randbedingungen, sorgfältige Auswahl chemischer Elemente, sprich menschlicher Eigenschaften, die mit- und aufeinander reagieren sollten. Die Gegenleistung des Senders für alle: Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist die Währung, mit der in den Medien gedealt wird.
Zu Anbeginn herrschte Aufregung darüber, ob das Fernsehen so etwas darf. Ob die Menschenwürde der Insassen im Menschenzoo verletzt würde oder ob jeder darf, wie er will, wenn er es nur freiwillig tut. Heute regt sich über „Big Brother“ niemand mehr auf. Von einer Staffel zu nächsten hat sich damals auch die Haltung der Protagonisten verändert. Sie haben von Mal zu Mal dazu gelernt und sich neben ihrem privaten so etwas wie einen öffentlich-privaten Habitus zugelegt, den sie als das eigentlich Private herzeigen konnten. Sie haben mit dieser inneren Aufspaltung Medienkompetenz erworben.
Nach „Big Brother“ waren in verschiedensten Formaten, viele weitere Versuchsanordnungen auf Sendung. Zum Beispiel die Zeitreisen. „Schwarzwaldhaus 1902“, von der Wissenschaftsredaktion des SWR initiiert, war noch das klassische Laborformat. Vier Menschen, die Familie Boro, zurückversetzt um ein Jahrhundert, eingespannt in die hygienischen, ernährungstechnischen und wohnlichen Bedingungen des vorigen Jahrhunderts (nicht in die sozialen, gesellschaftlichen und politischen). Das vorläufige Endprodukt dieses Typs werden die Steinzeitmenschen am Bodensee sein, wieder SWR.
Neben die Zeitreisen, meist in der ARD, kamen die Abenteuerreisen des ZDF, nach Sibirien und in die Karibik, schnell auch die hybriden Mischungen von Zeit- und Abenteuerreise wie RTL mit „Von Moskau nach Peking“ und als letztes derartiges Produkt derzeit auf Sendung: „Wie die Wilden“ von SAT.1: drei Familien werden in abgelegene Gegenden in Afrika oder in Asien geschickt, wo sie bei einheimischen Stämmen drei Wochen lang in Strohhütten, ohne fließend Wasser und mit täglich einmal Reisbrei zurechtkommen müssen. Erzählt wird in Form einer Doku-Soap. Der Sinn all dieser Reisen ist übrigens nicht, zu zeigen wie schwierig das Leben damals war oder dort ist, sondern wie angenehm und unveränderlich schön hier.
Neben den ausschweifenden Fern-Reisen reiste das Fernsehen auch in die inländischen Reservate, Biotope und Parallelgesellschaften: zu den Häuslebauern, Heimwerkern, Motorradfreaks und Kleingärtnern. Leute ließen sich vom Fernsehen die Wohnungen reservieren, die Garderobe erneuern. Jüngster Sproß dieser Familie von Versuchsanordnungen: „Hilfe! Zu Hause sind die Teufel los“ auf SAT.1, in der Kinder die Wohnungen und Häuser ihrer Eltern nach ihrer Phantasie umgestalten lassen konnten. In einer Folge ließen zwei Jungs die Küche von den Bühnenarbeiten des Senders in eine mittelalterliche Folterkammer mit Streckbank verwandeln und das Bad in eine Dschungelhöhle – die Eltern verklagten den Sender, den Rückbau zu finanzieren, erfolgreich.
Der Übergang zur Lebenshilfe ist auch in diesem Punkt fließend. Help-Entertainment breitet sich seit „Super-Nanny“ auf allen Sendern aus. Fernsehen macht jetzt nicht mehr Probleme, es löst sie. Wer seine Kinder falsch erzieht, zu viel Geld ausgibt, den falschen Partner geheiratet hat oder sich und seine Kinder ungesund ernährt – das Medium bringt es wieder ins Lot.
Die Versuchsanordnungen haben alle eines gemeinsam: sie brauchen Protagonisten. Sie brauchen Menschen, die mitspielen. Vor dem Bildschirm und vor allem vor der Kamera. Ihnen gegenüber entwickelt man durchaus ambivalente Gefühle. Einerseits die Reaktion: wenn die Leute schon so blöd sind, sich vom Fernsehen die Wohnung ruinieren zu lassen - sollen sie doch. Andererseits sofort der Gedanke: unverschämtes Fernsehen, das sich in die Privatangelegenheiten der Leute einmischt.
Die zentrale Kritik gegenüber den Help-Entertainment-Formaten lautet meist, Fernsehen zerstöre die Privatsphäre. Privatsphäre ist freilich eine historische Konstruktion. Was vor Jahren noch als unerbetene Einmischung gelten konnte, ist heute harmlos. Wer vor wenigen Jahren noch als Exhibitionist verhaftet worden wäre, kann heute Kurzzeit-Fernsehstar werden. Was gestern normal war, ist es heute nicht mehr und wird es morgen schon gar nicht mehr sein.
So etwas wie eine Privatsphäre gibt es allerdings erst im Zusammenhang mit der Herausbildung einer Öffentlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft im Zug der Durchsetzung bürgerlicher Freiheiten. Das Private bildet dabei den Raum, in dem das bürgerliche Individuum sich bildet und ganz bei sich ist, außerhalb und jenseits der gesellschaftlichen Verantwortung und der politischen Existenz als Bürger. Das Private ist der Ort der Selbstverwirklichung und dieser Ort ist positiv besetzt. Hier entstehen Identität, Authentizität und Integrität.
Diesen Ort eignen sich die Medien jetzt an und erobern ihn Stück für Stück, gehen in die Kinderzimmer, die Haushaltsbücher und in die Schlafzimmer und machen das Private öffentlich verhandelbar. Deshalb äußern sich die kritischen Fragen immer in diesen Kategorien: wie weit verletzt solches öffentliche Verhandeln die Integrität der Personen? Was kann man tun, ihre Identität zu sichern? Wie können sie selbst ihre Autonomie bewahren? ´
Das alles sind Dinge, die freilich nicht allein von den Medien und ihrer Schlüssellochgier angegriffen werden. Die Gesellschaft selbst stellt die Muster und Modelle bereit, nach dem Öffentliches und Privates behandelt und verhandelt werden.
Rollenspiel und Rollenwechsel sind Fähigkeiten, die zunächst nicht im Fernsehen, sondern im Leben gebraucht werden. Der flexibilisierte Mensch, der kurzfristig seinen Beruf wechselt, der wandlungsfähige Sozialcharakter mit Autonomieanspruch ist ein gesellschaftlich herauspräparierter Typus. Eine gewisse Theatralität im Auftreten und ein souveräner Umgang mit dem sozialen Zeichenrepertoire, etwa in der Mode oder der Gesprächsführung, sind gesellschaftlich erwartete Verhaltensweisen. Authentisch sein, ist eine Kategorie nicht des Fernsehens, zunächst jedenfalls, sondern eine der Gesellschaft. Klaus Wowereit hat mit der Feststellung, er sei authentisch, einen ganzen Wahlkampf bestritten.
Nicht einmal die Unterscheidung zwischen dargestellter und wahrer Identität ist eine Erfindung der Insassen von „Big Brother“. Sie ist tägliche Praxis in den Unternehmen, wo Angestellte zwischen der Distanz von Lohnabhängigen und erwarteter Loyalität täglich die Balance finden müssen. Individualisierung ist ein gesellschaftlicher Prozess, der den Einzelnen aus Traditionen befreit und zugleich zwingt, sich selbst zu erfinden.
Hier ist auch die Stelle, wo das Fernsehen einhakt. Der Medienforscher Ralph Weiß hat das so formuliert: „Die Medien, namentlich das Fernsehen, treffen mit der öffentlichen Inszenierung privater Lebensformen unstreitig ein Interesse bei Akteuren, die sich bei der Wahl einer eigenen Lebensführung nicht mehr am Vergleich mit Traditionen, sondern allenfalls an ihresgleichen orientieren können“.
Die Sache wird allerdings dadurch kompliziert, dass das Fernsehen nicht nur passiv seine Kameras hinhält. Es bildet den sozialen Wandel nicht bloß ab – es ist Teil davon und betreibt ihn selbst. In diesem Sinn ist es nicht mehr bloß ein Medium, ein Vermittler, sondern ein Spieler, ein Mitspieler und vor allem ein Spielgestalter. Meist ist es Ausrichter und Schiedsrichter zugleich.
Zum Beispiel in einem Dreiteiler des WDR, „Fake it – Schwindeln will gelernt sein“ von 2005. Die Grundidee basiert auf drei sozialen Spielregeln, die vielen abverlangt werden. Erstens: man kann in kurzer Zeit was Neues dazu lernen. Zweitens: Man muss sich dazu entsprechend anpassen. Drittens: jeder kann alles machen und es dabei auch vom Tellerwäscher zum Millionär bringen. Oder wenigstens zum Meisterkoch wie den Protagonisten Harry, der im Ruhrgebiet eine Frittenbude betreibt. Er wird in kurzer Zeit zum Sternekoch umgeschult. Man könnte auch im Brecht’schen Sinne sagen: Ein Mann wird ummontiert.
Harry schaffte das ganz souverän und mit Selbstironie. Aber die Spielregeln bestimmten die Filmemacher. Sie legten fest, in welchem Maße wir uns über den Protagonisten lustig machen können oder nicht. Sie dosierten das Maß der Schadenfreude. Und sie geben auch den Zuschauern vor, wie sie die Szenen zu sehen und zu interpretieren haben.
Diese Übermacht des Mediums gegenüber den Protagonisten dokumentiert sich im Fernsehen inzwischen in jeglicher Form. Bei den Bundestagswahlen etwa , wo die Programm-Macher die politischen Akteure in jegliche Form von theatralischen Veranstaltungen von der Arena bis zum Duell geschoben haben. Oder bei Veranstaltungen wie dem großen Deutsch-Test, wo sich kollektive Protagonisten begeistert in willkürliche Kategorien abpacken lassen und dann als Nonnen, Österreicher, Transvestiten oder Steuerberater gegeneinander antreten. Das Fernsehen schafft sich die Realitäten, die es braucht, inzwischen in weiten Teilen selbst.
Diese Übermacht drückt sich auch in den dokumentarischen Fernseh-Formaten aus. Hier hat sich der Schwerpunkt von den Autoren hin zu redaktionellen Konzepten verlagert. Entscheidungen werden nicht hinter der Kamera der Autoren, sondern hinter dem Schreibtisch der Redakteure getroffen. Entsprechend verändert hat sich auch die Rolle der Menschen vor der Kamera, der Protagonisten. Je nach Strenge und Dramaturgie des Formats sind ihnen bestimmte Rollen zugewiesen, die sie manchmal ganz von allein erfüllen, indem sie sich selbst spielen, die sie aber manchmal auch als Laienschauspieler herausfordern.
Formatierte Dokumentationen – ein formatierter Dokumentarfilm wäre ein Widerspruch in sich – sind gescripted, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, die Schauplätze sind gestaged und die Protagonisten sind gecastet. Das Casting ist heute der Weg, auf dem die Protagonisten ihren Weg auf die Fernsehbühne finden.
Dabei sind die Anforderungen durchaus diffizil und verlangen Medienerfahrung. Eine aus dem Internet herausgesuchte aktuelle Ausschreibung für ein Format aus der Kategorie Lebenshilfe.
„Für eine neue Doku-Soap suchen wir Menschen / Familien mit ernsthaften Problemen, die sich von einer professionellen, ausgebildeten Psychologin einige Tage helfen lassen wollen.
Das Profil:
Familien/Partnerschaften mit und ohne Kinder, die ein Problem haben
Altersgrenze: nicht älter als Mitte 40! (Ausnahme großer Altersunterschied: sie ist 20, er Ende 40 oder Anfang 50)
Menschen wie Du und ich, aber auch gern Eyecatcher
binationale Partnerschaften/Ehen
Alleinerziehende mit größeren Kindern (Pubertät und älter)
überwiegend aus dem Kölner/Aachener Raum, also NRW, aber auch aus Ballungsgebieten wie Berlin, München, Hamburg
Probleme können sein:
Familienprobleme z. B. mit der Schwiegermutter oder mit der Verwandtschaft
Eheprobleme z. B. Eifersucht, sexuelle Probleme, Geiz, Streitereien, Workaholic (Mann/Frau hat daher nie Zeit)
Gesundheitliche Probleme wie z. B. beginnende Magersucht der Tochter oder der Sohn nimmt ständig zu (Essen aus Frust?) – keine Fälle, die schon therapiert werden bzw. schon Krankenhausaufenthalte statt gefunden haben usw.
Schulprobleme der Kinder
Erziehungsprobleme
Zu ehrgeizige Eltern
Körperliche Gewalt in der Ehe
Übermütter
neue Lebenspartner/in wird v. d. Kind(ern) nicht akzeptiert
Wann wird gedreht?
Ab Anfang Oktober jeweils 2 bis max. 2 1/2 Drehtage für die Familie/das Paar (Achtung: an zwei nicht zusammenhängenden Drehtagen!)
Wo wird gedreht?
Bei den Familien zu Hause, in Ausnahmefällen mal in der Praxis der Psychologin
Ziel soll es sein, professionell vor Ort einzugreifen und direkt beim Entstehen oder Aufkeimen der Probleme Hilfestellung und Tipps zur Bewältigung zu geben. Anders als eine „normale“ psychologische Therapie kommt diese Hilfe direkt zu Euch nach Hause ins „Krisengebiet“ und kann dort viel individueller eingreifen und selbst miterleben, welche Probleme der Alltag Euch stellt.“
Ich lese diese Ausschreibung so: Hauptsache ein ordentliches Problem, am besten gleich mehrere, aber nur grade groß genug, dass eine Psychologin und ein Drehteam das in zwei Drehtagen bewältigen können. Der Protagonist ist die Psychologin, die Hlfebedürftigen sind ihr Material. Wie steht es mit deren Souveränität?
Im Sommerprogramm des WDR lief 2006 die Reihe „Der große Finanzcheck“. Sie handelte von Menschen, die mit ihrem Geld nicht zurechtkommen, überschuldet sind und denen nun auf den Weg der Privatinsolvenz geholfen werden soll. Hauptfigur ist der Finanzberater Michael Requardt. Er berät pro Folge jeweils eine Familie und hilft ihr aus dem Schlamassel. In einer Szene konnte man zum Beispiel einmal sehen, wie eine Familienberaterin den Kühlschrank einer Familie aufriss, ein Blick, kurzes Urteil: falsch ernährt, alles zu teuer, muss sich ändern. Die Frau hatte sicher recht. Aber zu sehen war die Szene einer Entmündigung vor Publikum. Es wird etwas öffentlich verhandelt, was auch diskreter behandelt werden kann, ja muss. Von Souveränität der Betroffenen: keine Spur.
Andererseits sind Protagonisten heute erfahren im Umgang mit Medien, direkt oder indirekt. Jugendliche wissen ziemlich gut – oder meinen zu wissen – was im Fernsehen so läuft. Diese wachsende Medienerfahrung müssen Filmemacher einberechnen. Immer schon mussten sie damit rechnen, dass allein die Anwesenheit einer Kamera die Situation verändert. Jetzt können aber noch die Rollenspieler dazu kommen. Das kann in einer gesellschaftlich heiklen Situation schwere Folgen für die Glaubwürdigkeit haben.
So ist es dem ZDF im März dieses Jahres in Zusammenhang mit den Ereignissen um die Neuköllner Rütli-Schule ergangen. zdf-reporter hatte im Zusammenhang mit diesem Medienhype einen Bericht über eine Gang aus dem Hamburger Viertel Mümmelsmannsberg gesendet. Es kam heraus, dass die Produktionsfirma, ein seriöses Unternehmen übrigens, einigen Protagonisten so genannte „Aufwandsentschädigung“ gezahlt hatte – etwas übrigens nichts Ungewöhnliches. Allerdings doch in diesem Fall, weil der Verdacht auftauchte, Teile des Berichts seien inszeniert gewesen.
zdf-reporter geriet schwer unter Glaubwürdigkeitsdruck, recherchierte hinter der eigenen Recherche hinterher und stellte die Ergebnisse in der nächsten Sendung vor. Die Redaktion machte dabei keine gute Figur, weil sie falsch getextet hatte und auch versuchte, die Schuld den Jugendlichen zuzuschieben. Interessant ambivalent war die Ansicht der Autorin des inkrimierten Beitrags, sie sei nicht sicher, ob die Jugendlichen ihr nicht etwas gespielt hätten, aber die Szene sei dennoch authentisch; solche Szenen gäbe es hier ständig. Sie sagte nicht, die Szene sei wahr oder dokumentarisch im strengen Sinn. Das ist derzeit auch Stand der Dinge: Wenn es nicht darauf ankommt, ob etwas wahr ist, sondern darauf, ob es authentisch ist - dann kommt es auf den einen oder anderen, auch inszenatorischen Eingriff ins Material auch nicht mehr an.
Noch eine Verschiebung ist zu registrieren. Mit der veränderten Rolle von Protagonisten ändert sich auch das Verhalten der Autoren – genauer: es kann sich ins Spielerische hin ändern. Ein klassisches Beispiel für eine veränderte Autorenhaltung ist zum Beispiel der Dokumentarfilm „Was lebst Du?“ von Bettina Braun. Sie erzählt vom Leben und Alltag vier muslimischer junger Männer in Köln. Die Autorin bringt sich selbst unmittelbar in den Film ein, ihre Schwangerschaft bildet einen kleinen Erzählstrang des Films. Die Kamera geht so nahe an die Protagonisten heran, dass diese sie als dialogisches Medium benutzen, also direkt ins Bild hineinsprechen. Sie ziehen ihre Show ab, sprechen in gleicher Weise aber auch über ernste Themen wie die Religion.
Einer der Protagonisten des Films schilderte hinterher seine Erfahrungen: "Am Anfang waren wir misstrauisch, aber es hat sich dann später alles zum Besten entwickelt. Wir wussten nicht, wie wir uns vor der Kamera verhalten sollten. Doch später waren wir die Schauspieler. Wir spielten ein Stück, ohne einen Text auswendig zu lernen: unser Leben. Es war cool, was anderes, und es ist auch komisch, unser Leben im Fernsehen anzuschauen. Wie wir uns benommen haben, was für Probleme entstanden und Vieles mehr."
Protagonisten verfügen über Medienerfahrung und es es gibt kein Zurück zu medien-naiven Protagonisten. Spielerischer, offener Umgang mit dem technischen Gerät, mit der Medienerfahrung und mit der Mediensituation ist unter diesen Umständen möglicherweise ein besserer Weg, an ihre Wahrheit heranzukommen als dem Naturalismus und Illusionismus zu folgen, dem das Fernsehen so anhängt.
Manchmal sieht man diesen Illusionismus auch gebrochen. So etwa in der Schlusszene des aufwendigen Zeitreisen-Mehrteilers „Windstärke 8“ des WDR. Nach dem Abspann sehen wir plötzlich eine Szene in der die Protagonisten die Rollen umdrehen, sich über Sprüche und Verhaltensweisen de Crew und damit auch über sich selbst lustig machen. Diese Szene ist eine der schönsten des Films –weil sie die Souveränität der Protagonisten wieder herstellt. Weil sie den Film als Film, das Medien-Spiel als Spiel gezeigt hat und ihm dadurch seine Wahrheit zurückgegeben hat. Weil sie die Protagonisten wenigstens für Augenblicke befreit hat aus den Rollen, die ihnen das Format übergestülpt hat.
Im Datenschutz gibt es einen Begriff für „informationelle Selbstbestimmung.“ Etwas Vergleichbares sollte es auch geben für den Umgang, den Filmemacher, Redakteure und Produzenten mit Protagonisten pflegen. Der Fall Natascha Kampusch hat das Problem der Privatheit, die eigentlich eine soziale Institution ist und eben keine Privatangelegenheit, scharf formuliert. Das Ansinnen der jungen Frau war, von den Medien verschont zu werden. Als Fernsehen und Zeitungen ihr Verlies zeigten, sagte sie, sie schaue auch nicht in die Schlafzimmer anderer Leute.
Das Problem haben auch Leute in weniger dramatischen Umständen, wenn von ihnen verlangt wird, sich einzubringen, authentisch zu sein. Nicht nur in den Medien, auch im sozialen Leben muss jeder immer wieder selbst entscheiden, was er von sich in welchem Zusammenhang herzeigen möchte. Wir brauchen, sagt Ralph Weiß „die Gelegenheit, selbst kontrollieren zu können, wie viel von dem eigenen Leben, den individuellen Wünschen, Befindlichkeiten und Handlungen dem Einblick und dem Einwirken anderer zugänglich gemacht wird“. Diskretion ist dafür eine Voraussetzung, Toleranz eine weitere.
In den Medien aber wird anders gedacht: Sie sind tendenziell erfolgreich, wenn sie Situationen herstellen können, in denen zum Beispiel die betroffene Person die Kontrolle über die Selbstdarstellung verliert. Medien setzen ihren Ehrgeiz darin, die Diskretion zu unterlaufen. Protagonisten helfen ihnen manchmal noch dabei, weil sie in der Währung Aufmerksamkeit bezahlt werden wollen. In diesem Spannungsfeld der Protagonisten und mit den Protagonisten bestimmt sich künftig auch die dokumentarische Arbeit im Fernsehen. Es wird eine der vornehmsten Aufgaben von Filmemachern sein, ihren Protagonisten die Souveränität über die Medienbilder zu geben oder sie ihnen, so sie sie verloren haben, wieder zurückzugeben.
Kontakt und weitere Informationen
Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW
Petra L. Schmitz
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