Dokumentarfilme für Kinder

Gespräch mit Petra Seeger, Regisseurin von "Die Schillergang"

Gespräche zu Kinderdokumentarfilmen 6
Europäisches Symposium 2001

Die Kölnerin Petra Seeger arbeitet seit über 20 Jahren als Dokumentarfilmerin. Für ihre letzte Produktion hat sie vier befreundete Mädchen zwischen 11 und 15 Jahren über vier Monate mit der Kamera beobachtet, darunter auch ihre eigene Tochter Nora. Die sechsteilige Doku-Soap Die Schillergang lief in diesem Jahr zwei mal im WDR und war bei Presse und Publikum heftig umstritten.

Die Schillergang war für ein erwachsenes Publikum konzipiert. Doch die Einschaltquoten auf dem klassischen Doku-Soap-Sendeplatz (WDR 22.30 Uhr, Sonntags) waren schlecht. Ist für Sie deshalb dieser Versuch gescheitert, Erwachsenen die Kinderwelt nahe zu bringen?
Es ist nicht nur so, dass ein Film die Einschaltquote festlegt, sondern das Umfeld bestimmt, wer überhaupt diesen Sender schaut. Der WDR will zwar dringend ein junges Publikum gewinnen, wird aber hauptsächlich von älteren Menschen gesehen. Es war anscheinend nicht möglich, dieser Altersgruppe -über 50 Jahre und aufwärts- die Kinderwelt näher zu bringen. Das hat viele Gründe, drückt aber sicherlich auch einen gesellschaftlichen Trend aus: der Generationen-Vertrag funktioniert auch im emotionalen Sinne nicht mehr. Gegenseitiges Interesse von Alten für Junge und umgekehrt hat stark abgenommen. Die Altersgruppen leben isolierter, sind mit sich selbst beschäftigt. Serviceprogramme, die eigenes materielles Interesse bedienen, sind gefragt.
Unsere Vorstellung, dass ältere Menschen sagen: "Toll, hier können wir sehen, wie die heutige Jugend aufwächst", der Abgleich mit eigenen Enkeln und der eigenen Jugend - das hat nur begrenzt funktioniert. Erwachsene, die selbst noch einen Zugang zu ihrer eigenen Kindheit und Jugend haben, haben allerdings oft sehr positiv reagiert. Für sie war der Film Auslöser, von ihrer eigenen Kindheit zu erzählen.
Wenn oft gesagt wird, wir leben in einer kinderfeindlichen Gesellschaft, dann ist das ja nicht nur eine Beschreibung rein äußerlicher Umstände, sondern beschreibt natürlich auch ein Verhältnis der Erwachsenen zu ihrer eigenen Kindheit. Und so kommt es, dass ein erwachsener Journalist als Überschrift über die Kritik des Films schreibt "Kindermund tut Unfug kund!" Das drückt eine Haltung zu Kindern aus - auch zur eigenen Kindheit. Ich habe das bei vielen Erwachsenen bemerkt; sie sprechen über die Kinder im Film, als handele es sich um fremde Wesen. Eine Kritikerin, die den Film sehr lobte, sagte, es sei ein fast ethnografischer Film über ein abgelegenes Tal in Tibet. Daran kann man erkennen, wie weit die eigene Kindheit weggerückt ist.
Ich mache nun seit 22 Jahren Filme und habe niemals eine so heftige Reaktion auf einen Film gehabt. Der Film hat stark polarisiert: glühende Fans und sich ereifernde Ablehnung. Anscheinend hat er ein Tabu berührt. Die Heftigkeit der Ablehnung legt das nahe. Ich glaube, dass der Film sich ganz auf die Kinder einlässt, und das ist etwas, was viele Erwachsene aus ihrer eigenen Kindheit nicht kennen und was für sie dann auch nicht sein darf.

Hat es Sie überrascht, dass die Serie im Gegenzug bei Kindern so eingeschlagen ist?
Ja, das hat mich überrascht und sehr gefreut. Ich dachte, denen erzähle ich ja nichts Neues. Das Interesse konnten wir im Internet ablesen. [http://www.schillergang.de] Zu Spitzenzeiten haben sich dort 19.000 Leute eingeklickt. Das Gros ist zwischen 16 und 20 Jahren. Die Fans haben ihren eigenen Chat gegründet, der bis heute jeden Abend läuft. Dort wurden Lieder und Gedichte auf Die Schillergang gemacht, Geburtstage der Gang gefeiert. Manche übernehmen sozusagen Patenschaft für Die Schillergang und geben gute Tipps für die Pubertät. Die Jungs finden es toll, endlich mal zu sehen, wie Mädchen sind, wenn sie nicht dabei sind. In dem Chat erzählen alle von ihrem eigenen Leben. Der Film war das einigende Moment. Sie spüren, dass der Film die Kinder ernst nimmt, und sie finden ihr eigenes Leben, ihre Gedanken und auch das, was Ihnen vielleicht fehlt, in den vier Mädels wieder.

In der Schillergang kommen Erwachsenen praktisch nicht vor. Ist das eine Erklärung für die Verschiebung der Zielgruppen?
Sie kommen nicht vor, weil die Erwachsenen in diesen Kinderleben -wenn es nach den Kindern ginge- weit weniger vorkämen, als es den Erwachsenen recht wäre. Es ist für sie wichtig, dass die Eltern da sind und einigermaßen "funktionieren", aber ihre Entdeckungen und ihre Welt ist in der Pubertät bestimmt von der Loslösung der Erwachsenen. Ich weiß nicht, ob die Erwachsenen den Film mehr angeschaut hätten, wenn sie präsent gewesen wären. Aber diesen Film hatte ich ja nicht machen wollen.

"Big Mother is watching you" hieß es in einer Kritik. Ist es irritierend für Sie, als erfahrene und erfolgreiche Dokumentarfilmerin jetzt in den Big Brother/Gute Zeiten, Schlechte Zeiten - Kontext zu geraten?
Für mich sagt das eher etwas über die Misere der Fernsehkritik aus. Oft fehlt jeder filmtheoretische Bezug. Big Brother und unsere Soap halte ich eher für Gegenmodelle. Die meisten Kinder und Jugendlichen können, im Gegensatz zu manchem Kritiker, diese Genres sehr gut auseinanderhalten. Viele Fans schrieben in ihren Mails, dass ihnen die Soap so gut gefallen habe, weil sie eben nicht wie Big Brother oder GZ SZ sei. Schillergang habe mit dem Leben zu tun, während die anderen es nur behaupten.
Aber auch im Internet haben wir teilweise eine Verwirrung festgestellt. Z.B. schrieb jemand, Dini solle nicht mehr in der Serie mitspielen und forderte eine Abstimmung der Fans darüber. Das hat mich umgehauen. Das Leben ist sozusagen fehlbesetzt. Den Zusammenhang mit Big Brother habe ich nicht so sehr in der Rezeption festgestellt, sondern- und das halte ich für viel gravierender- beim Drehen. In den ersten Wochen der Dreharbeiten zur Schillergang stellte ich fest, dass die Mädchen sich anfangs sehr veränderten, wenn wir drehten. Sie waren aufgekratzt, redeten am laufenden Band, gebärdeten sich manchmal sehr unnatürlich. Ein Jahr vorher hatte ich schon eine Woche mit den gleichen Mädchen gedreht, und damals war das Verhalten ganz entspannt und natürlich. Alle hatten kurz vor Drehbeginn Big Brother gesehen, und ich stellte fest, dass sie bestimmte Verhaltensweisen kopierten und sie mehr als üblicherweise miteinander rivalisierten. Wir hatten dann ein längeres Gespräch über unseren Film und die Unterschiede zu Big Brother, und als ich Ihnen zum Schluß sagte, dass bei uns keiner gehen muss, hat sich ihr Verhalten entspannt. Es gibt für uns Dokumentarfilmer ein Leben vor und nach Big Brother. Wir müssen die Entstellung, die Big Brother mit der Behauptung, Wirklichkeit abzubilden angerichtet hat, mit in unsere Arbeit und den Umgang mit den Menschen vor der Kamera einbeziehen.

Dokumentarische Formen für Kinder fristen im Fernsehen ein Ghetto-Dasein, es gibt sie fast nur noch als Einspieler in Magazinsendungen. Glauben Sie, dass die Doku-Soap die zeitgemäße Form für qualitativ hochwertige und gleichzeitig erfolgreiche Dok-Formate für Kinder sein kann? Gibt es überhaupt so etwas wie "Dokumentarfilme für Kinder"?
Ja, natürlich gibt es Dokumentarfilme für Kinder. Obwohl ich mich nicht sehr ausführlich damit beschäftigt habe, glaube ich, dass dieser Bereich aber noch sehr unterentwickelt ist. Die Doku-Soap, wie ich sie verstehe, ist gerade für Kinder und Jugendliche ein besonders geeignete dokumentarische Form, weil das unterhaltende, emotionale, erzählerische Moment betont ist. Es gibt viele Lebensbereiche, an denen Kindern interessiert sind, und das Genre Doku-Soap könnte den Kindern Einblicke gewähren, ohne den vielleicht strengen und didaktischen Impetus, der Dok-Filmen des öfteren anhaftet. Ich möchte allerdings betonen, dass ich ein hohes professionelles und handwerkliches Können der RegisseurInnen in diesem Bereich für extrem wichtig halte. Nicht jeder, der Dokumentarfilme gemacht hat, ist prädestiniert dazu, Doku-Soaps zu machen. Manchmal denke ich, dass eher Fähigkeiten aus dem fiktionalen Bereich gefragt sind. Das gleiche gilt für Kamera und Schnitt.
Was Die Schillergang betrifft, haben wir im Internet deutlich bemerkt, dass die Kinder und Jugendlichen extrem positiv auf die Serie reagiert haben, und sich darin auch die Abneigung gegen die gängigen fiktionalen Formen ausdrückte. Um so mehr hat mich die Entscheidung des Kinderkanals verblüfft, Die Schillergang dort nicht -wie ursprünglich geplant- im Herbst auszustrahlen.

 

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Petra Schmitz (Leitung) •
Stefanie Görtz • Bettina Schiel (Presse)
Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW
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