Protagonisten im Dokumentarfilm

Privatleben kopierbar. Vortrag von Dr. Karin Wehn

Dokumentation des Symposiums von September 2006 in Köln

Karin Wehn lehrt an der Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft

pdf Privatleben kopierbar

Die Neuen Medien, speziell das Internet, haben uns alle mit ihrer rasanten Entwicklung und ihrem exponentiellen Wachstum überrollt und nahezu alle Lebensbereiche gravierend verändert. Es überrascht daher nicht, dass sie auch Abläufe des Filmproduktionsprozesses sowie das Selbstverständnis von Filmemachern beeinflussen oder gar auf den Kopf stellen.

Klassisches Filmemachen – so auch Dokumentarfilmproduktion - war lange Zeit schon aus Kostengründen in weiten Teilen den Professionellen vorbehalten. Das hat sich radikal verändert. Mittlerweile kann – zumindest aus technischer Sicht - jeder zum Filmemacher werden. Voraussetzungen dafür waren, dass die letzten Jahre preiswerte Digitalkameras, Handys mit eingebauten Kameras die Märkte erobert haben. Insbesondere Amateuraufnahmen von Naturkatastrophen wie der Tsunami in Südostasien oder Hurrikane Katrina zeigen uns, dass Kameras immer mit dabei sind. Leistungsstarke PCs, die in der Lage sind, als Schnittcomputer benutzt zu werden sowie schnelle Bandbreiten geben jedem die Möglichkeit, zum Filmemacher zu werden und den Film auch über das Internet zu verbreiten. Und diese Möglichkeiten werden auch ausgiebig genutzt. Ob die Filme allerdings wahrgenommen werden oder im Übermaß des Angebots untergehen, darüber entscheiden andere Kriterien als in den klassischen Medien Film und Fernsehen.

Auch für die Distribution der Filme ist gesorgt: Entweder lädt man die Filme auf die eigene Website hoch oder verbreitet sie über Tauschbörsen. Zudem sind in den letzten Jahren zahlreiche neue Abspielkanäle mit gigantisch anmutenden Nutzerzahlen aus dem Boden geschossen, die derzeit einen Boom erleben. Es genügen ein paar Mausklicks, einen Film hoch- oder runterzuladen und es braucht auch nur ein paar Mausklicks, um einen digitalen Film zu kopieren. Eine Kopie im Netz kann im Idealfall reichen, damit sich bei entsprechendem Interesse der Film schnellballmäßig verbreitet – etwas, wovor die Major Player im Geschäft Horror haben, für unbekannte oder Nischen-Künstler hingegen kann es eine große Chance sein, ihr Publikum zu finden und bekannt zu werden.

Speziell in diesem und in letzten Jahr waren und sind Schlagworte wie Web 2.0 und Soziale Software in aller Munde. Viele sprechen dabei von einer neuen Software-Generation. Dabei handelt es sich – ganz knapp und sehr vereinfacht gesagt – um Technologien, die extern verwaltet werden, von den Users über den Browser aufgerufen werden, die dort Daten hochladen, diese mit Stichworten (sogenannten „Tags“) versehen und mit anderen Usern tauschen, seien es Bookmarks (Del.icio.us) Wissen (Wikipedia), Photos (Flickr) oder auch Filme. Raffinierte Such- und Kommunikationsfunktionen schafften hier in kurzer Zeit riesige und hochgradig vernetzte Archive, in denen Menschen sich kennenlernen und gemeinsam Inhalte schaffen.

Im Zuge dieser Entwicklung sind auch zahlreiche neue Filmportale aus dem Boden geschossen. Unangefochtener Marktführer bei den Videoportalen ist YouTube. Die Website gehört zu den am schnellsten wachsenden Websites überhaupt und rangiert auf Platz 11 der beliebtesten Websites bei Alexa. Nach Zahlen vom 16. Juli 2006, werden täglich 100 Millionen Clips bei YouTube angesehen und täglich 65.000 neue Videos hochgeladen. Und die User-Zahlen sind seither stetig weiter gewachsen. Die Seite hat nach Zahlen von Nielsen/NetRatings ca. 20 Millionen Besucher monatlich, von denen ca. 44 Prozent weiblich, 56 Prozent männlich und wo die Altersgruppe 12-17 dominiert. Nach Schätzungen ist die Seite zwischen $1 und $2 Milliarden wert. Und neben YouTube gibt es noch mindestens 250 andere Videohoster.

Mit diesen Veränderungen verschwimmen zum einen die Grenzen zwischen Amateuren und Profis. Nachdem Profis und Amateure annähernd über die gleiche Technik verfügen, müssen wir uns die Frage neu stellen, woran wir messen, was ein Filmemacher ist. Messen wir es an seiner Ausbildung, an seinen Auszeichnungen auf Festivals oder gibt es Qualitätskriterien, die sich relativ objektiv anwenden lassen?

Zum anderen werden auch die Beziehungen zwischen Filmemachern und ihrem Publikum unmittelbarer und direkter. Im Web können Zuschauer direkt Feedback geben und Filmemacher können darauf reagieren und sich überlegen, ob sie den Input ihrer Kritiker berücksichtigen.

Auf den ersten Blick erscheinen die Videoportale mit ihrer häufig rasanten viralen Verbreitung sehr attraktiv. Filme lassen sich mit wenigen Mausklicks online publizieren, sind immer und überall verfügbar, vermitteln neue Kontakte und werden von einem ständig steigenden Publikum wahrgenommen. Im Internet gibt es die Möglichkeit, Ideen und neue Konzepte behutsam und im direkten Kontakt mit dem Publikum auszutesten, die von den Gatekeepern der klassischen Medien u.a. aufgrund der sehr viel höheren Produktionskosten bei Kino und Fernsehen blockiert würden oder sich aufgrund von Kinobesucherzahlen oder Einschaltquoten in sehr viel kürzerer Zeit bewähren müssten. Filmemacher können die Speicherkapazitäten und die kommunikativen Möglichkeit der Neuen Medien benutzen, um sich neue Publika zu erschließen und um alternative Ideen zu publizieren, die in den klassischen Medien kein Gehör fänden. Das gilt für alternative politische Auffassungen wie für ungewöhnliche Formate gleichermaßen. Nirgendwo sonst können sie so direkt von dem Feedback anderer profitieren.

Das World Wide Web ist somit ein Ort, der höchst spannende Diskurse eröffnen kann, aber auch viel Schaden anrichten kann, denn die neue Generation von Webanwendungen und Portalen und der offensichtliche Drang von User, sich filmisch auszudrücken, wirft auch zahlreiche, gravierende Probleme auf, die im Bereich Datensicherheit, Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Voyeurismus liegen, über deren Konsequenzen bislang von allen Seiten zu wenig nachgedacht wird bzw. keine tragfähigen Lösungen existieren.

Im digitalen Zeitalter liegt die Glaubwürdigkeit der Bilder im Ermessen des Betrachters: Es ist für Zuschauer in der Regel nicht mehr wahrnehmbar, ob Bilder digital manipuliert wurden.

Das Word Wide Web entpuppt sich daher mitunter auch als eine gnadenlose Gerüchteküche, als ein Herd für Verschwörungstheorien und als ein Ort, an dem durch Verleumdung schonungslos Rache geübt wird. Von vielen werden übers das Netz kolpotierte Dinge unreflektiert mit Copy und Paste übernommen und weiter verbreitet. Das Schlimme ist, dass es bei digitalen Daten immer schwieriger wird, zu kontrollieren, ob eine Geschichte wahr oder komplett erfunden ist.

Die Verbreitung von Filmen auf diesen Videoportalen gehorcht zudem anderen Gesetzen: A & O ist, dass nach einer gewollten oder ungewollten Veröffentlichung eines Films sowohl für den Filmemacher oder für den Gefilmten nicht mehr steuerbar ist, was mit dem entsprechenden Film passiert. Filmemacher können aber auch komplett die Kontrolle darüber verlieren, wer wann was mit ihrem Werk macht.

Der Vortrag illustriert anhand von Beispielen exemplarisch, welche Chancen und Risiken die Neuen Medien für (Dokumentar-)filmemacher und für ihre Protagonisten bieten, aber auch die Frage aufwerfen, welche neuen ethischen Fragen sich mit den Neuen Medien stellen.

Vieles der nachfolgende Beispiele beherrschen schon seit Monaten die Schlagzeilen der Medien in den USA, sind aber in Deutschland bislang kaum wahrgenommen worden. Es sind schwerpunktmäßig Filme von Amateuren, die allerdings von der Werbung und der Filmindustrie sehr stark in den Blick genommen werden.

Mit Internetvideos über Nacht zum (unfreiwilligen) Star

Die Partizipation am Online-Video-Boom ist für viele ein Hobby unter vielen. Anderen bietet es ungeahnte und ungeplante Chancen, gleichsam über Nacht zum Star aufzusteigen.

Die plötzliche Popularität kann aber auch ernsthafte und unangenehme Konsequenzen haben, die für die Teilnehmer nicht von vornherein absehbar sind. Die rasante virale Verbreitung ist vergleichbar mit einer Lawine, die ins Rollen geraten ist. Deshalb erfordert das einfache Publizieren und Verbreiten von Videos neue Medienkompetenz, die auf den Punkt gebracht, lautet, sich gut zu überlegen, was man auf Video aufzeichnet bzw. aufzeichnen lässt, wo man es aufbewahrt und ob man es veröffentlicht.

Nachfolgende Beispiele haben es nahezu alle mit langen Einträgen in der englischsprachigen Wikipedia als „Internet Phänomene“ geschafft. Sie verdeutlichen die kreativen Möglichkeiten, aber auch die Risiken für die User.

Das Grundrezept für den (Miss-)Erfolg ist fast immer dasselbe: Man nehme eine billige Videokamera, verwende das heimische Schlaf- oder Badezimmer als Drehort, portraitiere sich in einer exaltierten Situation, unterlege das Ganze mit einprägsamer Musik und versuche überhaupt, durch möglichst niedrige oder nicht existierende Produktion Values aufzufallen.

Das "Star Wars Kid"

Schon vor der YouTube-Ära wurden die Problem und Gefahren, die mit viralen Videos verbunden sind, eindrücklich illustriert. 2003 filmte sich Ghyslain Raza, ein übergewichtiger Teenager aus Quebec mit ausgeliehenem Schul-Equipment, als er einen Golfschläger wie ein Lichtschwert - wie Darth Maul aus „Star Wars“ - wild tanzend um sich schwenkte. Wochen später fand ein Klassenkamerad das Videotape in einem Schulschrank und digitalisierte es. Die digitale Version wurde unter den Schulkameraden herum gemailt und von da an nahm das Unglück für Ghyslain Raza seinen Lauf und es entstand der bis jetzt größte Cyber-Mobbing-Fall. Ein weiterer Schüler erstellte eine Internetseite mit dem Video und nach kurzer Zeit wurde das Video zu einem Internethit. Die Seite mit dem Video wurde bis Ende 2004 über 76 Millionen mal aufgerufen.

Wo sich viele andere Teenager vielleicht über so viel Aufmerksamkeit und Zuspruch aus der ganzen Welt gefreut hätten, hatte Ghyslain nie beabsichtigt, dass das Video von seinen Klassenkameraden gesehen wurde. „I want my life back“ klagte er in einem Email-Interview mit der National Post, einer kanadischen Tageszeitung. Denn für ihn bedeutete die unfreiwillige Berühmtheit, dass er sich nicht mehr öffentlich zeigen konnte ohne als „Star Wars Kid“ verhöhnt zu werden. Das Mobbing ging soweit, dass er die Schule wechseln musste und sich in psychologische Behandlung begab, um den vom Mobbing ausgelösten Depressionen Herr zu werden.

Einmal im Internet, erzeugte das Video eine Fülle von geklonten Versionen, wurde vertont und mit visuellen Effekten versehen. Als die Fans mitbekamen, wie unglücklich ihr Protagonist über seinen Ruhm war, schlug ihm eine Welle an Sympathie entgegen: Einige sammelten Spenden für ihn, um ihm einen iPod zu schenken (den er bekam), wieder andere wandten sich an Lucas Film, mit der Bitte, ihm als Trost doch eine Rolle im nächsten „Star Wars“-Film zu geben, den Lucasfilm zu dieser Zeit gerade in Australien drehte (das klappte nicht).

Interessant an diesem Fall ist, dass jeder der an der Verbreitung beteiligten Schüler nur ein kleines Rädchen war, deren Handlungen erst in ihrer Kombination solch eine zerstörerische und verheerende Wirkung hatten. Nichtsdestotrotz wurden alle drei von Ghyslain Razas Eltern auf über $350 000 Schadensersatz verklagt und der Prozess erst vor kurzem mit einem Vergleich abgeschlossen.

Numa Numa

Ein ähnliches Beispiel wie das „Star Wars Kid“ ist die Geschichte um das Numa Numa-Video.

In der vernetzten digitalen Welt gibt es zahlreiche neue Möglichkeiten, sich ein Publikum zu erschließen und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Im Idealfall ist es im Netz möglich, nach dem Schneeballprinzip quasi über Nacht bekannt zu werden (den Versuch, dieses gezielt zu steuern, bezeichnet man als Viral Marketing). Dass das nicht nur positive Seiten haben kann, musste der ebenfalls übergewichtige Gary Brolsma erfahren, der ein Flash-Video von sich mit dem Titel „Numa Numa Dance“, das ihn beim leidenschaftlichen Tanzen zum Song „Dragostea Din Rei“ der rumänischen Band „O Zone“ zeigte, auf dem Filmportal Newgrounds ablegte.

Von Newgrounds wanderte das Video auf zahlreiche andere Seiten und von dort in die klassischen Medien u.a. in der New York Times wurde darüber berichtet. Begeisterte Fans drehten zahlreiche Klones und schließlich wurde es in diversen TV-Shows wie Best Week Ever und Today Show gezeigt. Newgrounds ist nur eine von vielen Websites, die eine ganze Sammlung von „Numa Numa“-Videos haben. Gary Brolsma hatte mit soviel unfreiwilliger Berühmtheit nicht gerechnet, wollte sich scheu zurück ziehen, aber die einmal losgetretene Publicity-Lawine ließ sich nicht mehr stoppen. Mittlerweile scheint er sich an den Medienrummel gewöhnt zu haben, denn ein neues „New Numa“-Video ist vor wenigen Tagen erschienen.

Die Beispiele zeigen also, dass der Umgang mit viralem Material neue Medienkompetenzen erfordert: Viele User unterschätzen die Dynamik, die virale Videos entwickeln können.

Gute, alte analogen Daten sind flüchtig oder erfordern erheblichen Aufwand, um kopiert zu werden. Digitale Kopien lassen sich meist mit einem einfachen Mausclick kopieren. Wurde ein Video erst einmal im Internet veröffentlicht, lässt es sich nicht so einfach wieder entfernen, denn viele User begnügen sich nicht damit, Videos nur anzusehen. Sie speichern die Videos ab und laden sie dann an einer anderen Stelle wieder hoch. Deshalb finden sich von den beliebtesten Videos oftmals eine Vielzahl von Versionen auf den Videohosting-Seiten. YouTube empfiehlt daher Mitgliedern in seinen Nutzungsbedingungen, sich die Veröffentlichung gut zu überlegen, und das Video ggf. als privat zu kennzeichnen und darauf zu achten, persönliche Information wie Telefonnummer und Adresse niemals anderen Usern gegenüber preiszugeben. Auch beim Inhalt des Videos gilt es darauf zu achten, dass nicht etwa Nummernschilder von Autos oder andere Bildinhalte Hinweise auf den Wohnort geben könnten. Das Szenario ist leicht vorstellbar, dass eine 20-Jährige hübsche Blondine, die in einem Video posiert, im realen Leben mal einen überraschenden Besuch von einem Fan erhält.

Vor wenigen Tagen wurde ein Mord verhindert, nachdem eine 22-Jährige versucht hatte, einen Killer zu beauftragen, die neue Flamme ihres Ex-Freundes zu töten. Ein Nachbar, der davon wusste, verständigte die Polizei und konnte so Schlimmeres verhindern.

Aus den USA sind auch schon einige Fälle bekannt, bei denen die Arbeitgeber vor dem Bewerbungsgespräch oder der Einstellung soziale Netzwerke wie MySpace oder Videoseiten wie YouTube nach Informationen zum Bewerber durchsuchten. Einige brachte das ordentlich in Verlegenheit, als sie ihre Profile auf MySpace und Co. erklären mussten. In diesen Profilen prahlten sie mit einem ausschweifenden Nachtleben und veröffentlichten sorglos Fotos und Videos von ihrem letzten Rausch, was in diesen Fällen erhebliche Probleme mit sich brachte. Manche Firmen gehen noch weiter und kontaktieren die Freunde der Bewerber, die sie über die sozialen Netzwerke ausfindig machen und ziehen so Erkundigungen ein.

Doch nicht nur für Bewerber, sondern auch für Firmen und deren Angestellte birgt das Internet und die virale Verbreitung Gefahren. So gerieten vor kurzem AOL und Comcast stark in die Bredouille, nachdem im Internet ein Video und eine Audioaufzeichnung von Kunden veröffentlicht wurden.

Das unter dem Namen „Comcast-Video“ zirkulierende Video zeigt, dass man zukünftig besser aufpassen muss, in welchen Situationen man sich selbst auf Video aufzeichnet, bzw. aufzeichnen lässt. Brian Finkelstein hatte einen Techniker seines Kabelanbieters Comcast zu sich nach Hause bestellt, der einen Fehler an seiner Empfangsanlage reparieren sollte. Als er jedoch in sein Wohnzimmer kam, fand er den Mann schlafend auf seinem Sofa vor. Der erboste Kunde rächte sich auf seine Weise, nahm kurzerhand seine Videokamera zur Hand und dokumentierte die Situation und unterlegte anschließend das filmische Material mit dem Song „I need some sleep“ von der Band Eel und Zwischentiteln, die den schlechten Service des Kabelanbieters monierten. Den knapp einminütigen Clip lud er bei YouTube hoch.

Das Ende vom Lied: Der Techniker wurde fristlos gefeuert. Nichtsdestotrotz entstand Comcast beträchtlicher Image-Schaden, denn es stellte sich heraus, dass der Techniker zuvor über eine Stunde in der Warteschleife gehangen hatte.

Ähnlich erging es einem AOL Mitarbeiter, der die Vorgabe, es Kunden so schwer wie möglich zu machen zu kündigen, übereifrig umsetzte. Zu seinem Bedauern hatte jedoch ein Kunde dies vorausgesehen und zeichnete das Telefongespräch auf. Anschließend veröffentlichte er die Audiodatei, in der er verzweifelt versuchte, seinen Vertrag zu kündigen, auf seinem Blog. Auch hier dauerte es nicht lange, bis auch die New York Times und andere große Medien darüber berichteten. Auch in diesem Fall führte die Veröffentlichung zur fristlosen Kündigung des Mitarbeiters.

Brookers - Der Tellerwäscher-Mythos Reloaded

Ein weiteres Beispiel für diesen Trend ist Brooke Brodack, die im Internet unter dem Handle „Brookers“ agiert. Auch sie ließ sich vom „Numa Numa“-Video inspirieren und drehte eine eigene Version davon - „Crazed Numa Fan“. Das Video zeigt Brookers und ihre jüngere Schwester Missy ausgelassen und enthusiastisch tanzend zum Song „Dragostea Din Rei“ der rumänischen Band „O Zone“. Dabei gibt Brookers vor, das Lied nachzusingen, zeigt sich des Head-Bangings fähig wie ein Profi, und ist auf sympathische Weise exzentrisch. Weitere Videos von ihr zeigen sie unter anderem darüber monologisierend, warum Kinder Klebstoff essen.

Mit solchen Videos manövrierte sie zum Shooting-Star und glücklichen Gewinner des Online-Filmemachens und startete im Internet mit einer Bilderbuchkarriere durch.

Brookers Videos werden mittlerweile millionenfach abgespielt. Es ist kaum vorstellbar, dass die 20jährige Kellnerin zuvor als schüchtern und unsicher galt, denn Brookers hat eine überraschend starke Kamerapräsenz, in die Aspekte wie Verletzlichkeit, Kindlichkeit, Unschuld und Wildheit einfließen.

Die 20jährige Kellnerin aus der verschlafenen Kleinstadt Worcester gilt als der erste YouTube-Star, der über seine Präsenz auf dem Video-Portal einen Schritt über die Schwelle von Hollywood setzen konnte. Ihr wurde im Juni 2006 ein Vertrag von Carson Dalys Produktionsfirma angeboten. Zusammen mit dem NBC-Talkshow Moderator Carson Daly wird sie in einem so genannten „talent/development deal“ Inhalte für das Fernsehen, das Internet und mobil Geräte produzieren. Das wäre übrigens fast schiefgegangen, da Brookers die ersten beiden Emails von Ruth Caruso, der Entwicklungschefin von Carson Daly, als Hoaxes interpretiert und gelöscht hatte. Carson Daly hatte selbst Caruso auf Brookers aufmerksam gemacht, nachdem er sie zufällig beim Surfen entdeckt hatte.

Dokumentarische Machinimas

Mit dem Internet sind weiterhin neue Produktionstechniken entstanden, die entweder besonders gut für die spezifischen Bedingungen des Internets (niedrige Bandbreiten) geeignet sind oder durch die kommunikativen Möglichkeiten des Internets florieren und die mittlerweile teilweise auch Einzug in die klassischen Medien halten. Dazu zählt u.a. Machinima - Filmemachen mit Computerspielen.

Computerspiele des Genres Ego-Shooter wie Quake, Unreal Tournament oder Halflife sind digitale 3D-Welten, in denen Spieler in Welten voller Terroristen und Monstern das simple darwinistische Ziel verfolgen, zu überleben, indem sie so viele Gegner wie möglich töten. Abhängig von den Vorgaben des Spiels und den Tastatur-Eingaben des Spielers wird der Zustand der virtuellen Welt in Realzeit neu berechnet und verändert sich ständig und übergangslos.

Solche „Ballerspiele“ – haben in der breiten Öffentlichkeit nicht erst seit den Amokläufen jugendlicher Spieler in Erfurt, Bad Reichenhall und Littleton, USA, einen schlechten Ruf und müssen als Buhmann für die scheinbar erhöhte Gewaltbereitschaft der Spieler herhalten.

Die meisten der besorgten Kritiker wären aber wohl überaus überrascht, wenn sie wüssten, dass das Genre auf dem Prüfstand auch für höchst kreative Ziele verwendet wird. Eine lebendige, über alle Kontinente verstreute Subkultur macht mit Hilfe von Ego-Shootern und neuerdings auch anderen Computerspielgenres wie Simulationen oder Rollenspielen Filme in 3D-Optik und bezeichnet diese als „Machinima“, ein Kunstwort, das gleichzeitig auf „machine“, „cinema“ und „animation“ anspielt.

Die Anhänger dieser sich rasant vollziehenden Computerspiel-Film-Bewegung prognostizieren euphorisch, dass man mit Hilfe der in naher Zukunft auf den Markt kommenden Spiele nahezu ohne Budget, mit relativ wenig zeitlichem Aufwand und in kompletter künstlerischer Freiheit 3D-Animationsfilme herstellen könne, die den Vergleich mit den großen Vertretern nicht scheuen brauchen.

Für die Produktion von Filmen auf Basis von Computerspielen nutzen die Macher deren Game Engines – gleichsam das Herz eines Computerspiels – aus. Die Game Engine ist die Software, die sowohl die Physik der virtuellen Welt als auch die möglichen Handlungen und Bewegungen der Spieler darin steuert und das virtuelle Geschehen auf dem Bildschirm darstellt. Sie regelt die Platzierung aller Objekte und Einheiten, sowohl die Performanz der Maschinengewehre, die Mimik der Zombies als auch die Fahreigenschaften der Fahrzeuge. In Echtzeit werden auch bei raschen Bewegungen des Users bewegte Bilder ohne ruckelnde Übergänge errechnet.

In weniger als zehn Jahren ist aus einer kleinen Subkultur eine Mainstream-Bewegung geworden, das auch deswegen, weil die Spielehersteller auf den von den Fans gesetzten Trend reagieren und mittlerweile ihre eigenen benutzerfreundlichen Produktions-Tools mit den Spielen veröffentlichen. Während es anfangs vor allem Insider-Jokes und Parodien auf die verwendeten Spiele, Musikvideos und kurze Comedy-Formate, die nur im Internet zirkulierten, wird Machinima zunehmend auch in den klassischen Medien, bspw. dem Fernsehen, eingesetzt.

In dokumentarischen Formaten finden sich ganz unterschiedliche Verwendungsweisen von Machinima. Zum einen wird es als (im Vergleich zu herkömmlicher CGI-Animation) kostengünstige 3D-Animationssoftware benutzt, um Szenen nachzustellen. So wurden in Time Commanders, einer Show von BBC 2, historische Schlachtszenen im Spiel Rome: Total War produziert. Auch in Deutschland gibt es ähnliche Versuche, berühmte Schlachten preisgünstig mithilfe von Game Technologie nachzustellen.

Zunehmend wird auch virtuelles Leben als Gegenstand für Dokumentarfilmer erkannt. Klaus Neumann dokumentiert in seinem Film „ Father and Sin“ eine Handlung im Computerspiel The Sims 2. Er nahm dabei keinen Einfluss auf das Spiel, es gab kein vorgefertigtes Drehbuch, sondern er ließ nur die im Spiel integrierte Kamera mitlaufen. Die Handlung blieb dabei völlig offen.

Andere Spieler benutzen Computerspiele, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie berichten in ihren Filmen von sexuellem Missbrauch, Gewalt in Familien (Home) und vom Tod von nahestehenden Familienmitgliedern ( I will be here). Möglicherweise fällt es diesen Usern leichter, persönliche Schicksale und Tragödien mittels eines Avatars offen zu legen.

Second Life ist eine virtuelle 3D-Welt, die ihren Usern Werkzeuge zur Verfügung stellt, um sich die virtuelle Welt anzusehen und sie zu bearbeiten. Jeder User ist durch einen Avatar repräsentiert, den er selbst gestalten kann. Am 6. Oktober 2006 hatte Second Life 841,765 Bewohner, sogenannte Residents.

Immer mehr Menschen verbringen sehr viel Zeit in Second Life und ähnlichen virtuellen Welten. Einige verdienen dort als Modedesigner für virtuelle Mode oder virtuelle Architektur mehr Geld als mit ihren Jobs im richtigen Leben und geben ihre berufliche Existenz im realen Leben auf. Berühmte Dozenten wie der Jurist Lawrence Lessig halten dort ihre Vorlesungen ab und Künstler wie Suzanne Vegas und Duran Duran geben dort Konzerte. Die ersten virtuellen Kriminalfälle werden gerade vor realen Gerichten verhandelt. Obwohl nur ein virtueller Raum, ist er doch schon in weiten Teilen wirtschaftlich erschlossen, es gibt Patentämter und Wechselstuben.

Wie User in Second Life ihre virtuelle Existenz inszenieren, fällt sehr unterschiedlich aus und es kommt zu interessanten Wechselwirkungen zwischen realer und virtueller Welt: Manche der Second Life Residents übernehmen ihre reale Identität 1:1, andere inszenieren sich komplett unterschiedlich als in der Realität und probieren alternative Lebensentwürfe aus. Die Dauer und die Intensität, die User in virtuellen Umgebungen wie Second Life verbringen, eröffnen Dokumentarfilmern zum einen neue Felder, die es zu beobachten gilt. Andererseits gibt es interessante Grenzverschiebungen zwischen realen und virtuellen Welten. Dabei ist auch interessant, dass Menschen, die durch Avatare in virtuellen Welten repräsentiert sind, mitunter offener sind als im realen Leben.

Der Filmemacher Pierce Portocarrero arbeitet bereits an einem Dokumentarfilm mit dem Titel Ideal World über die beliebte Mode-Designerin Nephilaine Protagonist, in dem er Aufnahmen mit der echten Person mit Aufnahmen ihres Avatars in Second Life verknüpft. Weitere Interviews mit anderen Second Life -Residents sind in Vorbereitung. Dabei reizt der Regisseur das ganze Repertoire zwischen realer und virtueller Welt aus: Second Life-Elemente werden verwendet, um vergangene reale Begebenheiten nachzustellen, visuelle Metaphern aus der virtuellen Umgebung repräsentieren mentale Zustände.

Wenn auch die überwiegend von Amateuren produzierten Beispiele professionell produzierten Film in den meisten Fällen noch nicht das Wasser reichen können, zeichnet sich doch schon ab, dass es in naher Zukunft zahlreiche neue Chancen und Möglichkeiten geben wird, kreatives Potenzial auszuleben.

Vorsicht ist jedoch geboten, wenn man was wo dokumentiert, weil nachher häufig keine Kontrolle mehr darüber möglich ist, was mit einem Werk passiert und es leicht in andere verfälschende Kontexte gestellt werden kann.

Links

Gugel, Bertram; Karin Wehn: "Mit Internetvideos über Nacht zum (unfreiwilligen) Star". In: telepolis, 12.09.2006 (Teil 4) - weitere Teile in Planung!
Gugel, Bertram; Karin Wehn: "Die Videohoster suchen nach Antworten". In: telepolis, 06.09.06 (Teil 3)
Gugel, Bertram; Karin Wehn: "Videohoster im Porträt. Das spektakuläre Comeback von viralen Videos". In: telepolis, 16.08.2006 (Teil 2)
Ideal World - a Virtual Life Documentary
Knoke, Felix: Mit Gibson am Tresen. In: Spiegel online 05.08.06. http://www.spiegel.de/netzwelt/netzkultur/0,1518,430033,00.html
Roth, Wolf-Dieter: Tod im Netz. Wenn das Profil einer Social Networking Site zum Steckbrief wird. In: telepolis 19.09.2006. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23574/1.html
Wehn, Karin: "YouTube und Co. Das spektakuläre Comeback von viralen Videos". In: telepolis, 01.07.2006 (Teil 1)

Die Textteile über YouTube und andere Online-Videohoster entstanden gemeinsam mit Bertram Gugel und wurden bereits im Netzkultur-Magazin Telepolis als ein Teil der Serie „Online-Video-Boom“ in leicht veränderter Form publiziert.


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