Interviews mit Dokumentarfilmern
Gebiete ohne feste Eigenschaften
Ein Gespräch via E-Mail zwischen Michael Girke und Rainer Komers
E-Mail-Interview zwischen Michael Girke und Rainer Komers
MICHAEL GIRKE: Den wesentlichen Anteil deines Lebens als Künstler hast du in Mülheim/Ruhr verbracht – was ist Grund dieser auf den ersten Blick doch ungewöhnlichen Entscheidung? Was sind die Vor- und was die Nachteile eines Künstlerlebens im Ruhrgebiet?
RAINER KOMERS: Geboren bin ich 1944 in Guben, nach dem Krieg geteilt in Wilhelm-Pieck-Stadt Guben und Gubin, wie Mülheim an der Ruhr eine nicht sehr große Stadt am Fluss, an der Neiße. Im Februar 1945 Flucht vor der heranrückenden Roten Armee. Mit Geborgenheit war Schluss für einige Zeit. Unser Haus in Mülheim wurde von der britischen Rheinarmee requiriert, und die Familie wurde getrennt. Ich kam zu meiner Tante, bis eine neue Wohnung gefunden und später das Haus zurückgegeben wurde. Während des Studiums habe ich in Berlin, Bonn und Düsseldorf gelebt, aber danach zog es mich wieder zurück nach Mülheim. In Düsseldorf hatte ich in einer Werbeagentur und an der Kunstakademie – im Schatten von Konzernzentralen und Königsallee – Ausbeutung und Konkurrenz erlebt. Dem dort vorherrschenden Kampf um Anerkennung und Status bin ich bewusst ausgewichen in die provinzielle Geborgenheit (und Enge) des Ruhrgebiets, wo mich keiner nach Rang und Namen fragte. Bis heute fühle ich mich zu denen hingezogen, die manuelle Arbeit machen, 'Du' zueinander sagen, und die wenig oder nichts zu verlieren haben. Aber der Preis für den Rückzug war eine langjährige Regression. Filmreisen ins winterliche Moskau und in den sonnigen Jemen halfen mir, mich daraus und aus drückender Provinzialität zu befreien und eröffneten mir eine Welt jenseits von stillgelegten Zechen, Stahlwerken und Lokalfrust. Auf dieser Linie lag die Entscheidung, einen zweiten Standort in Berlin zu suchen, um dort 'die Batterie aufzuladen'. Aber erneut scheue ich davor zurück, mich gänzlich dem Gerangel und der Unbehaustheit einer Großstadt auszuliefern.
Hast du noch Erinnerungen daran, was das Kino zur Zeit deiner Jugend war? Welche waren die bewegenden Filme, wer die faszinierenden Regisseure?
Ich bin gänzlich fernsehfrei und fast kinofrei aufgewachsen. Kino wurde mir zuhause als etwas Ungebildetes, Unbürgerliches, quasi Exotisches vermittelt, von dem man mich fernhielt. Heimlich und mit Schuldgefühlen schlich ich mich in die Ganghofer-Verfilmung „Das Schweigen im Walde“. Es war Adenauerzeit, eine bleierne Mischung aus Verdrängung, Restauration und Kaltem Krieg. Aber neben Atomraketen und Starfightern schickten die USA auch Rock’n Roll-Bands, Gangster- und Westernfilme in die Bundesrepublik, Vertreter und Produkte der Kulturindustrie, die archaische und mythische Bedürfnisse nach Abenteuer und Selbstentäußerung bedienten. James Cagney und Gary Cooper wurden meine Helden. 1963 in Berlin kamen Zbigniew Cybulski in „Asche und Diamant“ von Andrzej Wajda und Tarkowskis „Iwans Kindheit“ dazu. Osteuropa war näher am Krieg gebaut als westdeutsches Wirtschaftswunderland. Noch heute sehe ich die hinreißenden Plakate von Hans Hillmann und Jan Lenica aus Berlins Straßen vor mir.
Zurück in Mülheim mit seinen damals noch zahlreichen Kinos erinnere mich an „Der Rest ist Schweigen“ mit Hardy Krüger, Peter van Eyck und „Das Brot der frühen Jahre“, erstklassig und in magischem Schwarzweiß fotografiert von Wolf Wirth, einem Münchener Verwandten von mir. Mitte der 60er Jahre, als Mitarbeiter im Studentischen Filmclub Bonn, mutierte ich vom Kinogänger zum Kinomacher. Wir zeigten Nouvelle Vague, New American Cinema, 16mm-Filme von Stan Brackhage, Kenneth Anger und amerikanischen Atomwaffengegnern, Pasolinis „Accattone“ und Ozus „Tōkyō Monogatari“. Julian Beck und das Living Theatre luden wir ein in den Hörsaal 1 der Bonner Universität. Aber vor allem beeindruckten mich „Los Olvidados“ und „Viridiana“ von Bunuel, dem wir eine Reihe widmeten, und später war „Tagebuch einer Kammerzofe“ lange mein Lieblingsfilm. Anstelle von Schauspielern wurden Regisseure wie Buñuel meine Helden, und durch Plakate, die ich zu Ihren Filmen entwarf und druckte, konnte ich näher an sie heranrücken.
Hattest du zu dieser frühen Zeit schon einen Blick für den Dokumentarfilm?
Zurück aus Bonn und wieder im Ruhrgebiet traf ich Peter Nestler und Reinald Schnell, die gerade mit der Bolex „Mülheim (Ruhr)“ gedreht hatten. Dieser wunderbar poetische Film steht am Anfang meiner eigenen Entwicklung zum Dokumentarfilmer. Mit ihrem kurzen Meisterwerk hatten sie gezeigt, dass es auch außerhalb von Filmstudios und den Metropolen und mit minimalen Ressourcen möglich ist, Filme zu machen, und dass ein Festival wie die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ihnen ein Forum bietet. Oberhausen wurde nach Bonn zu meiner zweiten Filmakademie und ein weiteres Tor zur Welt, diesmal durch den Dokumentarfilm. Inzwischen hatte sich die Jugendbewegung zur Studentenbewegung ausgeweitet und politisiert. Experimental- und Dokumentarfilm, die das Oberhausener Festival bis heute zusammen zeigt, fingen an, getrennte Wege zu gehen. Konfrontiert mit den Nachwehen der Gewaltherrschaft in Deutschland erschien mir die Beschäftigung mit Kunst, obwohl sie mich stark faszinierte, als Luxus einer elitären Minderheit. Für mich stand auf der Tagesordnung die Gesellschaft ganz, auch in der Arbeitswelt, zu demokratisieren und sich den Hinterlassenschaften von Rassismus und Krieg zu stellen. Mit dem Rüstzeug von Plakat und Dokumentarfilm schien ich für diese Aufgabe am besten gewappnet zu sein. Also wurden Flaherty und Ivens meine Helden.
Führt ein direkter Weg von dem Punkt, Regisseure zu Helden zu haben, zu dem Punkt, selber ein Regisseur werden zu wollen?
Vor allem wenn das Ego (noch) schwach ist, braucht es Helden. Zudem bekommt es die wirklichen, meist unscheinbaren, Helden fast nie zu Gesicht, sondern die künstlichen, gemacht von der Unterhaltungsindustrie, nach herrschendem Geschmack. Da ich ein langweiliger Gutmensch bin (war), nahm ich mir mit zwanzig Jahren im Western den Sheriff zum Vorbild, John Wayne, einen Reaktionär, zu dem sein schiefes Lächeln und sein eiernder Gang nicht zu passen schienen. Übrigens ging es meinem Freund Elk Chief von den Blackfeet im Alter von zwanzig mit Wayne tatsächlich genauso wie mir. Da dieser, auch das Gute, wie gesagt, schnell langweilig werden, wandte ich mich mit zweiundzwanzigeinhalb von den Pferdeopern ab und dem Gangsterfilm zu. Großstadtdschungel statt Prärie, Chevrolet statt Quarter Horse – nur die Waffen, die meine Helden benutzen, blieben in etwa die gleichen, abgesehen von der Maschinenpistole, die die unhandliche Winchester ersetzte. James Cagney, obwohl klein von Statur, stand in meiner Beliebtheitsskala ganz oben, auch wenn er am Ende des Films sterben musste. Wie sehr sich z.B. seine Coolness vom gestelzten Gehabe und Geschrei auf der Theaterbühne meiner Gymnasialzeit absetzte, beschreibt Lewis Jacobs so:
'Just as the screen required restraint in gesture, it also required restraint in delivery of speech. A technique of voice delivery proper to the film was in the long run worked out, largely through the success of American Grade B pictures and the rise to fame of such actors as Spencer Tracy, James Cagney, and Gary Cooper. Film dialogue, it was discovered, was most effective and dramatic when it was uttered clearly, rapidly, and evenly, almost thrown away. Emphasis and emotional effect must of necessity be left to the care of the visuals. Moreover, films must move or they become intolerable. Long stretches of dialogue inevitably cancel movement and visual variety, in spite of all that the most enlightened director can do.'
Was mich am Hollywoodfilm jener Jahre außerdem anzog, war das proletarische Milieu, in dem seine Geschichten und Helden spielten. Der Cowboy ist ein Viehtreiber, ein ungebildeter Tagelöhner, der statt eines Bankkontos nur seine Fäuste hat, um sich zu behaupten. Gegen den konnte der Briefträger und Kleinbürger Rühmann bei mir nichts ausrichten. Und der Gangster ist ein Outlaw, ein Andreas Baader, der sich (fast) die gesamte Gesellschaft zum Feind macht. Im Grunde träumt ein Zwanzig- oder Zweiundzwanzigeinhalbjähriger davon, selbst ein starker Cowboy oder ein gerissener Gangster zu sein. Mit fünfundzwanzig ahnt er, dass aus diesem Traum wahrscheinlich nichts wird. In diesem Alter verschlang ich im Mülheimer Löwenhof-Kino Frank Tashlins „The Nutty Professor“ und „The Bellboy“. Jerry Lewis, der auf seinem Pferdegebiss mit den Lippen Klavier spielen kann, wurde mit seiner (präsexuellen) Schüchternheit mein Held, und ist es – ohne Reue – bis heute geblieben. Der Filmvater eine wabbelige, konturlose Null, die Filmmutter ein knochiger, despotischer Drachen, diese Konstellation seiner Geschichten war mir aus vielen Nachkriegsfamilien (die Männer kamen schließlich als Verlierer aus dem Krieg zurück) vertraut.
Mit fünfundzwanzig war ich allmählich in der Realität angekommen und konnte mir jetzt auch eine Bolex zulegen. Die Helden meiner ersten Filme, nach zehn Jahren Umweg über die Serigraphie und das Plakat, waren Bauern der Wilstermarsch und Zigeuner aus Duisburg. Aber wenn ich frei hätte wählen können, wäre ich lieber der Held vor der Kamera gewesen, vielleicht kein Bauer oder Zigeuner, eher ein Abenteurer, einer der wagemutig ist. Hinter der Kamera als jemand, der die Handlungen anderer beobachtet, der sie benutzt wie Schauspieler, sie aber nicht dafür bezahlt (selbst ein Voyeur bezahlt seine Darsteller), kam ich mir oft vor wie ein Gefangener hinter Gittern oder ein Behinderter, der sich selbst nicht frei bewegen, sondern nur beobachten kann. Deshalb ist das Verhältnis Helden – Regie bei mir bis heute skrupulös besetzt. Es hat eine blutsaugerische Komponente und etwas 'Unauthentisches', einen Defekt, den ein anthroposophischer Arzt bei mir diagnostizierte, und der mir empfahl, statt mit der Filmkamera fremden Leuten auf den Pelz zu rücken, Steine zu bearbeiten, die Bildhauerei. Ich hatte ihn wegen einer Pollenallergie aufgesucht. Bildhauer bin ich nicht geworden, und die Allergie habe ich immer noch. Spürbare Entlastung kam erst, als ich die Regisseurin und Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen mit meinen Skrupeln hinter der Kamera belästigte, worauf sie auf ihre trockene (Dithmarscher) Art erwiderte: 'Mach Dir nicht so viel Sorgen, sie (die Protagonisten) haben doch auch was davon, wenn sie gefilmt werden. Schließlich bekommen sie Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung durch Dich.' So selbstverständlich wie dieser Trost von Gisela kam, wirkte er therapeutisch. Hinter der Kamera stehe ich immer noch.
Mit deinen Anmerkungen von eben bewegen wir uns in Konstellationen der Zeit um 1968. Rüstzeug klingt nach Bewaffnung. Inwiefern konnte/kann Kunst ein Rüstzeug sein? Was bedeutete Kunst damals?
In jenen Jahren gab es eine starke Tendenz, Elfenbeintürme und Studierstuben, Museen und Hörsäle zu verlassen, Produkte kollektiv herzustellen, technisch zu vervielfältigen und damit buchstäblich auf die Straße zu gehen. Voraussetzung dafür war, über die Produktionsmittel selbst zu verfügen und ihre Handhabung zu beherrschen. Angeregt durch Andy Warhol und seine Factory entwarf und druckte ich Plakate, erst für Filmclubs, dann für politische Kampagnen wie die Anti-Apartheidbewegung.
Politisch zu handeln, auch bei der Herstellung fotografischer Bilder, kann zurückgehen auf frühe Wahrnehmungen von mir. Mein Vater war Direktor in einem Stahlwerk. Wenn wir im Winter Kohlen bekamen, ließ er Arbeiter aus der Fabrik kommen, die sie in den Keller schippten, und für jeden gab es eine Flasche Bier. Meine Mutter hatte Marlies, eine Haushilfe, die uns das Mittagessen ins Esszimmer brachte, aber selbst in der Küche essen musste. Ihr Freund holte sie manchmal von der Arbeit ab mit einer schwarzen BMW, mit der sie später an einem Baum landeten. Ich bin in einer bürgerlichen Straße aufgewachsen, und in der Villa um die Ecke wohnte ein Industrieller. Schräg gegenüber von uns gab es eine abgetretene Wiese, die zu einer proletarischen Straße hinführte. Dort spielte ich mit Ala und den anderen Arbeiterkindern Fußball. Mit Ala spielte ich auch Hockey und in einer Mannschaft mit Albert-Hugo, dem Industriellensohn. Als Ala ein Auto kaufte, fuhr er nachts zu schnell in die Kurve und war tot. Obwohl bei Albert-Hugo zuhause ein weißer Flügel stand und sein Vater der Schule eine Orgel spendierte, bewunderte ich Ala mehr, der etwas Wildes, Ungebändigtes an sich hatte. Und weshalb ich Leuten wie Ala heute noch immer zuneige, weiß ich selber nicht so genau.
In der Familie diskutierten wir oft über Auschwitz, und dabei schnitten meine Eltern schlecht ab. Der Deutschlehrer, ein gläubiger Katholik, las 1962 mit uns Brecht, der im Westen als Kommunist verfemt wurde. Ein anderer Deutschlehrer, der uns in die Geheimnisse der darstellenden Künste einweihte, wurde als Homosexueller denunziert und strafversetzt. Dann durfte ich mit einem tief sitzenden Gefühl für Ungleichheit in der Welt, aber auch für verborgene Schönheit und Kraft erwachsen werden.
Neulich hörte ich mir eine zufällig gefundene, sehr alte Live-Platte von Franz Josef Degenhardt an. Viele sehr schöne Lieder darauf, das Politische und das Poetische für einmal glücklich verbunden. Aber: Degenhardt macht stets lange Ansagen, welche den Liedern Stoßrichtungen geben sollen, sie aber verflachen, die Poesie eindämmen, sie tendenziell instrumentalisieren. Hast du dich auch mit solchen Spannungen zwischen Kunst und Politik herumgeschlagen? Da ich weder Talent für Agitation noch für Werbung besitze, hielt sich propagandistische Verflachung, selbst in einer dogmatischen Phase, bei mir in Grenzen. Als ich die Serigraphie der Galerie Denise René/Hans Mayer leitete, entwarf und druckte ich in Mülheim ein Plakat zur Wiederzulassung der KPD – in Op-Art-Manier und zu Pudowkins „Sturm über Asien“ – in Pop-Art-Manier. Bob Dylan, nicht Degenhardt drehte sich auf meinem Plattenteller.
Ich habe politisches Bildermachen lange Zeit als Zwang zur Selbstverleugnung und zur Verleugnung meiner ästhetischen Erziehung gedeutet. Als Nachkriegsdeutscher und Bürgerlicher fühlte ich mich in erster Linie mitschuldig an den Verbrechen der Nazis und zur Wiedergutmachung verpflichtet. Diese Disposition reichte in der Regel aber weder für politische und schon gar nicht für gute Bilder. Heute versuche ich die Selbstverleugnung und das Plakative wegzulassen und - zu erzählen bzw. zu zeigen.
Die Spannungen, von denen du sprichst, kann man auch filmtechnisch beschreiben. Für jeden engagierten Bildermacher, unabhängig davon, welche Rolle er sich selbst im (politischen) Spiel zuweist, kommt es darauf an, authentisch, d.h. glaubwürdig vor sich selbst und für seine Protagonisten zu sein. Denn verhaltenspsychologisch betrachtet geht es beim Fotografieren von Menschen immer auch um ein Spiel mit der Macht, um einen verdeckt oder offen aggressiven Akt, für den ein ständiger und oft ermüdender Rechtfertigungsbedarf besteht. Da die herkömmliche Fotografie in einer Camera Obscura durch Objektive mit (im Verhältnis zum natürlichen Sehen) unspezifischen Brennweiten vollzogen wird, und da alle weiteren Prozesse an einem vom shooting entfernten Ort passieren, lassen sich schon rein technisch Manipulation und Lüge mit dem Material nicht ausschließen, es sei denn, der Fotograf kann sich durch ethische Normen ausweisen und hält sich auch daran. Diese ethischen Normen muss er versuchen in Übereinstimmung zu bringen mit seinen bildnerischen Instinkten, seinem individuellen und gesellschaftlichen Antrieb und seinen ästhetischen Parametern, die ihn letztlich auf den Auslöser drücken und ein verantwortliches, 'gutes' Bild zustande bringen lassen. Welch widersprüchliche Verhaltensweisen sich aus diesem Balanceakt ergeben können, zeigt sich z.B. bei der New Yorker Straßenfotografin Helen Levitt (deren Fotografien zwar nicht auf Seite 1 des „Daily Worker“ erscheinen, die aber meiner Vorstellung von engagierter Fotografie entsprechen). Helen Levitt, die hauptsächlich Armeleutekinder beim Spielen in Harlem und in der Lower East Side fotografierte, war bei der Arbeit mit der Leica so schüchtern, dass sie einen Winkelsucher zu Hilfe nahm. Aber kaum jemand beutete dabei (trotz des fragwürdigen Hilfsmittels) seine 'Objekte' so wenig aus wie sie. Und über die Qualität ihrer Arbeit äußert der Kurator und Kunsthistoriker Colin Westerbeck: 'Levitts Bilder vermitteln den Eindruck, dass sie Kinder nicht besonders mag. Darum sind ihre Bilder auch gut.'
In der Geschichte der Malerei geschieht im 15. Jahrhundert Umwälzendes. Bis dahin hatte man die Ästhetik des Malens gewissermaßen unsichtbar gemacht; die Aufmerksamkeit der Betrachter sollte sich allein auf den gemalten Gegenstand richten, dem hatte die Kunst zu dienen. Und dann wurde z. B. die Dicke der Farbschichten und damit das Malen selbst zum Thema der Bildkunst. Gibt es beim dokumentarischen Filmemachen ähnliche Züge und vor allem gibt es sie in deinen Filmen?
Die Sache mit dem 'dienenden Blick' ist ambivalent – und erweiterbar. Am Anfang steht die reine Beobachtung. Edelsteinschleifer in Idar-Oberstein, eine meiner ersten Kameraarbeiten. Der Diamant ist in ein Griffwerkzeug eingespannt, wird auf die horizontal rotierende Schleifscheibe gedrückt, vor die Lupe am Auge geführt, begutachtet, wieder auf die Schleifscheibe gedrückt und so fort. Der Vorgang wiederholt sich so lange, bis der Diamant den perfekten Schliff und Glanz hat. Kamera und Montage versuchen, diesen Prozess verstehbar zu machen und zu verdichten, durch den Wechsel der Kamerapositionen, durch die Wirkung von Licht und Schatten, durch den Rhythmus. Aber erst aus dem aktiven Zusammenspiel der Attraktion vor und hinter der Kamera in einer, wie auch immer gearteten, 'menschlichen' Dimension kann ein Juwel werden, sonst bleibt es Mechanik und Oberfläche. Für welchen Edelsteinschleifer entscheide ich mich, den dicken oder den hageren, den faltigen oder glatten, rasierten oder unrasierten? Wie ist seine Mimik, seine Körpersprache, seine Aura? Und wie reagiert der Blick hinter der Kamera, der zum Blick des Publikums werden soll, auf das Ensemble im Cadre? Ein Blick, der zwischen Voyeurismus und Vereinigung hin und her schwingt, gesteuert von Instinkt, Respekt und gesellschaftlicher Erfahrung. Ein Diamant ist haltbar und überdauert die Zeiten, weil er hart ist, und weil er verführerisch glänzt, also wegen seiner physischen und seiner ästhetischen Eigenschaften. Wie und in welchem Kontext kann aus dem Blick ein Juwel werden, oder wie kommt die Eintagsfliege in den Bernstein und dadurch zu Haltbarkeit? Indem ich, in einem ersten Schritt, die Elemente der Filmkunst nicht nur bewusst mache, sondern sie, als eine Möglichkeit, bewusst reduziere? Indem ich z.B. die Sprache weglasse? Darüber habe ich mir oft den Kopf zerbrochen und auch versucht zu schreiben.
Behauptung: Warum altern (Film-)Bilder mit Sprache tendenziell schneller und werden schneller historisch (Archivmaterial) als solche ohne Sprache?
Eine gefilmte oder fotografierte Szene ohne Sprache und erklärenden Text ist wie die Reise durch eine Landschaft ohne Wegweiser, Landkarte und GPS. Der Betrachter hat die Freiheit, sich in der gezeigten Landschaft nach seinen Vorstellungen zu bewegen. Vorstellung (auch Musikhören) unterliegt keinem aktuellen Zeitmaß, löst sich davon ab wie der Traum.
Für Traum ist Mangel an Orientierung und kritische Reflexion charakteristisch.
Im Traum gibt es keine Zeit, sondern aufeinander folgende Bilder (nach Siebenthal).
Wird der Betrachter dagegen durch Sprache geführt, wird er einem (laut-)abstrakten Code unterworfen, der ihn tendenziell zu rationaler Rezeption bzw. Analyse zwingt. Dieser Vorgang impliziert zugleich ein konkretes Zeitmaß: Der Protagonist A hat das und das zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt. Der Alterungsprozess beginnt sofort. Ein Bild oder ein sprachloser Ton dagegen können wie ein Windhauch sein, der die Haut berührt und nicht nach der Zeit fragt.
'The eye should learn to listen before it looks' sagt Robert Frank.
Es wird alles sofort alt mit mir, vielleicht marschiert es mit mir. Das Foto macht ja sofort alles alt.
Wenn ich einen Brief schreibe, spreche ich vom Jetzt – das gibt es aber nicht in der Fotografie, da ist alles immer Vergangenheit. Du machst Deine 'Fotografenarbeit', und alles wird sofort Vergangenheit. Wörter sind mehr Gedanken, das 'Fotografenbild' ist immer umhüllt von romantischem Glanz – 'no matter what and how you twist it.' Robert Frank im Gespräch mit Ute Eskildsen und seiner Frau June Leaf – aus dem Katalog „HOLD STILL keep going“. Die Sache, z.B. mit der behaupteten Haltbarkeit des 'sprachlos-schönen’ Blicks, bleibt also ambivalent und verhandelbar.
Einer deiner frühen, schwarzweißen Dokumentarfilme heißt „480 Tonnen bis Viertel vor zehn“. Er zeigt die Welt der Hafenarbeiter von Duisburg, die den Status von Aushilfen haben, ohne gewerkschaftliche Organisation und ohne Schutz dastehen. Wie bist du zu diesem Thema gekommen?„480 Tonnen...“ entstand für die WDR-Sendereihe „Schauplatz”, die wenig später mit Beginn der Ära Kohl eingestellt wurde. Das Institut für Sozialforschung an der Universität Duisburg hatte ein Forschungsprojekt „Arbeit im Binnenhafen” zusammen mit der Gewerkschaft ÖTV, bei der ich Mitglied war und bin (jetzt heißt sie ver.di), gestartet. Einer der beteiligten Studenten kam aus Mülheim und hatte schon bei der Firma Scharrer im Duisburger Südhafen recherchiert. Mit ihm zusammen habe ich den Film begonnen. Kurz vorher hatte ich die zwei „Bandonion“-Filme von Klaus Wildenhahn fotografiert, hatte also intensive Erfahrungen mit dem Direct Cinema gemacht, was hieß: kein Licht (available light), kein Stativ, keine gestellten Szenen, sondern 'teilnehmende Beobachtung' (was ein hohes Drehverhältnis einschloss). Nach diesen Prinzipien habe ich auch „480 Tonnen...” gedreht. Am Anfang und am Ende des Films gibt es jedoch zwei Szenen, die mit dem Protagonisten (und Betriebsrat) Günter Prusa verabredet waren. Sie sollten die angestrebte Entwicklung vom ehemaligen Tagelöhnerberuf zum anerkannten Beruf des Hafenfacharbeiters zeigen. Requisiten der beiden Szenen waren ein alter Dampfkran und Günter Prusas Tagebücher, in denen er jeden Tag seiner 30-jährigen Arbeit im Hafen festgehalten hatte. Der Rest des Films ist reine Beobachtung ohne weitere Interventionen: in und vor dem Sozialbau, wo auch die Arbeit verteilt wurde, beim Verladen auf oder in den Waggon, auf oder im Schiff, am Kai und auf dem Kran. Den Film habe ich in Schwarzweiß gedreht, weil ich Angst vor den bunten Bemalungen und Wimpeln der Rheinschiffe hatte. Seltsamerweise verleiht ihm das, zusammen mit der so unmittelbaren Darstellung der Arbeit einen Hauch von Zeitlosigkeit. Kürzlich war ich, also dreißig Jahre später, noch einmal im Südhafen. Dort stehen noch immer die beiden 'Mohr'-Kräne wie im Film. An der Arbeit wird sich kaum etwas verändert haben, Stückgut bleibt Stückgut. Als ich kürzlich den Film im Filmforum Duisburg zeigte, war unter den Zuschauern auch der (inzwischen emeritierte) Professor Dankwart Danckwerts, der seinerzeit das Forschungsprojekt „Arbeit im Binnenhafen” geleitet hatte. Von ihm erfuhren wir, dass der Film dazu beigetragen hat, dass es den anerkannten Beruf des Hafenfacharbeiters gibt.
Der Film „480 Tonnen“ besticht dadurch, dass er den Hafenarbeitern lange und geduldig bei ihren Tätigkeiten zusieht, so dass der Betrachter einen genauen Eindruck von ihrem Alltag erhält. Glaubst du, man würde einen solchen Film heute noch beim WDR zeigen? Und hat sich deines Erachtens etwas Grundlegendes verändert an den Haltungen der öffentlich rechtlichen Sender gegenüber dem Dokumentarischen?
Vor dreißig Jahren, als der Film entstand, waren alle jünger: die den Film gemacht haben, die ihn gesendet haben, und die ihn gesehen haben. Das Durchschnittsalter der Fernsehzuschauer bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten liegt heute bei sechzig plus. Die wollen sich gut fühlen, wenn sie die Kiste einschalten: Hunger in Afrika, Spritzen am Bahnhof Zoo, bedrohte Schimpansen am Pol, Kranke, die nicht länger krank sein wollen, Verbrecher, die öfters zwei Mal klingeln, Leben und Sterben außergewöhnlicher Frauen und Männer und Eisbären, untermalt von Streichern. Ein bisschen Gender darf’s auch sein, Senf gehört zum Würstchen dazu. Leute mit sechzig plus haben das Arbeitsleben – freiwillig oder unfreiwillig – hinter sich, jetzt fängt ihr Leben erst richtig an. Dieses Leben wollen/müssen die Anstalten – bewusst oder unbewusst – bedienen, lassen es menscheln und tiereln, plotteln und mehrwerteln, bis der Bildschirm kracht. Branding und Verpackung wie im Supermarkt, jeden Tag derselbe Käse, dieselbe Wurst, und die Biotheke wächst langsam mit den Altersflecken. Dennoch glaube ich, dass Discounter wie Anstalten sich prinzipiell in der Annahme irren, nur mit nach industriellen Fertigungsmaßstäben angefertigten anonymisierten Produkten Kunden bzw. Zuschauer an sich binden zu können. Warum ist ein jüngeres Publikum die vorgestanzte Dauerberieselung offenbar leid und macht sich im Internet ihr eigenes 'handgestricktes' Programm? Warum laufen Dokumentarfilme, die interaktives Mitsehen und Hören verlangen, nachts um Eins und nicht zur Primetime?
„480 Tonnen“? Als ich den Film zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder sah, bekam ich direkt Lust, wieder Direct Cinema zu machen: Menschen beobachten, wie sie buchstäblich mit Materie hantieren, die ein Bewusstsein von oben und unten haben und stark genug sind, ihre freie Brust wie ihren freien Standpunkt öffentlich zu machen. Im WDR? Das wäre mein Wunsch. Aber mit weder dreißig noch neunzig Minuten Länge, ohne Story, just Arbeit und Alltag, nur ein Splitter in der Hand, sonst keine Krankheiten, in welches Format, welches Schema passte das rein? Vollprogramm und Quote bilden zurzeit eine wasserdichte Allianz. Ein „Studio für audiovisuelle Kunst“ nach dem Vorbild des WDR-Hörfunks, ein dokumentarisches Spartenfenster, in dem Filme wie ein neuer „480 Tonnen“ außerhalb des Tagesprogramms via Internet jederzeit gesehen und gehört werden können – das wär’s. Die Weichen dafür können nur alle Beteiligten zusammen mit der Politik stellen.
Bei „480 Tonnen“ ist etwas zu beobachten, was auf alle deine Filme zutrifft: du wendest dich nie einem einzigen Protagonisten zu, sondern immer einer Gruppe, einer (Arbeits-)Gemeinschaft, oder gar der ganzen Bewohnerschaft eines Ortes. Ist dies richtig beobachtet und wenn ja, was ist der Antrieb für dieses Vorgehen?
Skrupel. Skrupel, in die Persönlichkeitssphäre anderer einzudringen. Skrupel, die Verantwortung für einen Protagonisten zu übernehmen, mit dem es an die Öffentlichkeit geht. Skrupel, als Filmemacher an der Nabelschnur eines Protagonisten zu hängen und von dessen Kooperationsbereitschaft 'bis zum Äußersten' abhängig zu sein. Skrupel vor der psychischen Energie, die ich erst in ihn hineinpumpen muss, bevor ich ihn aussaugen kann. Skrupel, ihn als Schauspieler zu benutzen, ohne ihn wie einen Schauspieler (zu) bezahlen (zu können).
Lust. Lust auf Gemeinschaft an gesellschaftlichen Schauplätzen. Lust, den Hölderlin’schen Turm zu verlassen. Lust, den untertänigen Scardanelli an die frische Luft zu schicken, Land, Leben und Leute entdecken zu lassen.
Angstlust. Angstlust, vor eine fremde Gemeinschaft zu treten und ihr in die Augen zu sehen. Angstlust, auf eine Gemeinschaft zu stoßen, die konträr zur eigenen Gemeinschaftslosigkeit steht. Angstlust, einer Gemeinschaft Vertrauen abzuhandeln, der ich selbst nicht angehören möchte.
Sehnsucht. Sehnsucht, einer Gemeinschaft anzugehören und ihr die Verantwortung zu übertragen. Banale Sehnsucht, nicht allein sein zu müssen, sich selbst nicht definieren zu müssen. Illusorische Sehnsucht nach Vereinigung in Harmonie und Konfliktlosigkeit.
Du arbeitest gleichzeitig als Kameramann und als Regisseur. War dies schon immer so und wodurch kam es zu dieser Verschränkung der Tätigkeiten? Wie sehr prägt deine Arbeit des Kameramanns deine Auffassung von dem, was ein Regisseur ist?
Ich fing Mitte der 60er Jahre an mit poetischen Kameraaufzeichnungen von Vorgängen in meinem Umfeld, wie ich sie heute auch wieder mache, nur dass sich das Umfeld inzwischen ausgeweitet hat, und dass die Tonspur dazugekommen ist. Den Versuchen lag damals kein filmisches Konzept zugrunde. Daher führte ich sie nicht weiter und arbeitete zunächst als Kameramann bei unabhängigen Projekten. Die Kameraarbeit korrespondierte mit meiner bildnerischen Arbeit als Plakatmacher. Es handelt sich beim Film wie beim Plakat um technisch reproduzierbare Medien, mit denen ich mich bewusst von der bildenden Kunst, in der das handgefertigte Original im Mittelpunkt steht, absetzen wollte. Durch den jahrelangen ausschließlichen Umgang mit bewegten und unbewegten Bildern hatte ich jedoch das Schreiben und den Kontakt zu Literatur und Theater vernachlässigt. Daher war mir das essentielle Verhältnis von Sprache (als einer Ausdrucksform des Denkens und Erzählens) und dem erzählenden Film lange nicht bewusst – was einerseits ein Defizit war, andererseits Ansporn bis heute ist, an einer filmischen Erzählform zu arbeiten, deren Rezeption sich der von Werken der bildenden Kunst und der Musik annähert.
Ich füge hier die Synopsis meines „Kobe“-Films an, um ein Beispiel dafür zu geben, wie ich die Nähe zu anderen Künsten, in dem Fall zur Musik, suche:
'Jemand fragte Debussy, wie er komponiere. Er sagte: Ich nehme alle Töne, die es gibt, lasse diejenigen weg, die ich nicht will, und verwende alle anderen. Die Antwort von Debussy gefällt mir. Ich möchte es so anfangen, wie er sagt: Ich nehme alle Großstädte, lasse diejenigen weg, die ich nicht will, und verwende Kobe…Kobe hat alle Häfen: Handelshafen, Fährhafen, Flughafen – produziert alle Waren: Schiffe, medizinische Apparate, Sake – verarbeitet alle Tiere: Rinder, Fische, Perlmuscheln – bietet alle Parks: Industriepark, Technologiepark, Merikenpark… Kobe hat alles, was Großstädter verbindet: Bullettrain, Brücke, Bergbahn – alles was Großstädter anfassen: Essstäbchen, Kampfschwert, Pachinko – alles was Großstädter fürchten: Langeweile, Verkehrsstau, Zartheit – alles was Großstädtern fehlt: Erfahrung, Genügsamkeit, Horizont… Ich nehme alle Schauplätze in Kobe, verwende diejenigen, an denen es spezifische Töne gibt, und lasse alle anderen weg…'
Im Moment, wo ich die Kamera aus eigenem Antrieb einschalte, beginnt Regie. Der Schauplatz, der Beginn des Einschaltens und der Zeitpunkt des Abschaltens werden von mir definiert. Der Prozess des Auswählens und Sammelns von Bewegtbildern geschieht im Bewusstsein des Montageprozesses, der dem Material die endgültige Gestalt und den endgültigen Rhythmus gibt. Dies gilt sowohl für die Direct Cinema-Methode, bei der ein prozesshaftes Geschehen, dessen Ausgang unbekannt ist, beobachtend und improvisierend begleitet wird, als auch für den synthetischen, d.h. konzeptuell vorbereiteten und geplanten Film. Dass ich die Kameraarbeit auch bei den eigenen Filmen bis heute nicht aufgegeben habe, hat mit der Obsession zu tun, durch den Sucher der Kamera ein bewegliches Objekt in einem Raum ins Visier zu nehmen, d. h. die chaotische und verwirrende Vielfalt visueller Phänomene im Fadenkreuz eines kadrierten Rechtecks zu bannen und auf das 'Wesentliche' zu reduzieren. In der Dominanz dieser Obsession steckt die Gefahr, dass sie ergebnislos verpufft, solange sie nicht durch Buch und Regie, d.h. durch eine erzählerische Form gelenkt wird.
In dieser Dialektik programmierter Blockaden (visuelle Obsession vs. sprachlich determinierter Plan) bewegt sich meine Regiekameraarbeit. Im Zentrum des Konflikts steht also das Verhältnis von Sprache und Film. Der Kameramann in mir verlangt ostentativ (schon um das teure Filmmaterial von Kodak zu sparen): Im Bild muss sich mehr bewegen als die Lippen der Protagonisten (talking heads). Dieses emotional starke Verlangen hat den Regisseur in mir dazu bewegt, nach einer Methode zu suchen, die ganz ohne talking heads und voice over auskommt und Sprache durch Geräusche oder ambient sound (auch wild sounds genannt) zu substituieren.
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Irgendwann hat es eine Art Bruch oder einen Sprung in deiner Arbeitsweise gegeben, so dass man dein Werk in deutlich unterscheidbare Phasen einteilen kann. Vorher gab es, bei all ihrer Qualität, eher konventionell oder sagen wir klassisch gearbeitete Dokumentarfilme wie „480 Tonnen“ oder auch „Lettischer Sommer“. Dann ab „B 224“ sind die Filme ohne Kommentar, ohne Sprache - die nun wesentlichen Elemente sind allein die rasch wechselnden Bilder und die Montage. Wie kam dieser Wechsel zustande?
Von Anfang an hatte ich ein spannungsvolles Verhältnis zur Sprache im Film. Bewegt werden dabei – wie gesagt – vorrangig die Lippen, und es kostet viel wertvolles Material (ich spreche von Film, nicht von Video). Instinktiv begann ich mich deshalb für Fotografie zu interessieren und war ein Jahr lang Gasthörer bei der Fotografieprofessorin Inge Osswald. Das hat wohl eine Bewegung von der verfolgenden Kamera des Direct Cinema („480 Tonnen“) zur 'fotografischen' oder 'kadrierenden' Kamera („B 224“) ausgelöst.
Entscheidender noch war die Erkenntnis, dass ich ein Konzept brauchte für die weitere Filmarbeit, die sonst in einer Sackgasse enden würde. Auslöser für diese Erkenntnis war eine Semester-Exkursion zu den Feierlichkeiten anlässlich des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie. Ich hatte mit einer sehr guten Kamera sechs Schwarzweißfilme belichtet, aber – im Gegensatz zu meinen Mitstudierenden – ohne Konzept. Ich hatte also nichts zustande gebracht, nicht ein ansehbares Foto. Trotz dieser niederschmetternden Erfahrung hat es dann noch vier Jahre bis zu dem Wechsel gebraucht, und Auslöser dafür war „Ein Schloß für alle“, ein wortlastiger Film für den WDR, bei dem ich sechzig Kassetten verdreht hatte und auf das deprimierende Drehverhältnis von 1:30 gekommen war. Ich musste das Ruder um 180° herumreißen und warf meinen Fernseher gleich hinterher. Statt vor der Kiste zu hocken, hörte ich im Radio WDR 3, „Studio für akustische Kunst“, ein Soundscape vom Vertreter der musique concrète Luc Ferrari. Eine Flasche Rotwein, oder eine halbe, half dabei, und das war’s: Soundscape zusammen mit Film, gleich 35 mm, Breitwand und Dolby SR. Keine 'soziale Falle', keine Gemeinschaft mehr, stattdessen Fortbewegung entlang einer Straße und in einem von ihr definierten Korridor, fotografisch knappe und sequenzielle Beobachtung von Arbeitsvorgängen und Freizeit an wechselnden Schauplätzen, Drehverhältnis 1:4, der Pilotfilm für sechs fertig gestellte dialogfreie Filme bis heute. Glücklicherweise wurde der kein Flop.
Was wäre deine Reaktion, wenn man deine Filme als Heimatfilme bezeichnen würde?
Den Begriff 'Heimatfilm' verbinde ich mit dem Kino der Adenauerzeit. Kurz nach dem Weltkrieg wurde damit die Sehnsucht nach einer heilen Welt bedient. Städte und Fabriken waren zerstört, Millionen Menschen waren entwurzelt, meine Familie auch. Der Prozess der Entwurzelung wurde und wird beschleunigt durch eine rasant fortschreitende Technologisierung und Verstädterung. Angekommen in der schönen, neuen digitalen Welt stellte sich die Frage: 'Was ist Realität?' Der Wirklichkeitsbegriff, auch der im Dokumentarfilm, wurde einer Revision unterzogen. Die boomenden Medien, die ursprünglich reine Mittler von Wirklichkeitsdaten waren, generierten jetzt selbst Wirklichkeit und infiltrierten damit die physische Welt. Und während die mit jedem Tag künstlicher wird, zeichne ich mit einer analogen Kamera, wie schon die Lumières 1897, Bewegungen an physischen Schauplätzen in verschiedenen Heimatländern auf. Das ist meine Reaktion auf erlebte Entwurzelung. Und andere reagieren auch. Neulich, während eines Aufenthaltes in New York, wohin ich zu einem Festival eingeladen war, las ich folgende Anmerkung des Kritikers Mark Elijah Rosenberg, New York: 'Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell auf eine nachindustrielle Welt zubewegen würden, beherrscht von virtuellen Produkten und Cyber-Realitäten? Eine Welt, in der es für die physischen Objekte der jüngsten Vergangenheit keine Verwendung mehr gibt und die Erzeuger und Verbraucher von heute altmodischen, früher nützlichen Produkten keinen Platz mehr haben. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo wir unseren Abfall liebevoll bedenken müssen, um uns selbst vor der Vernichtung durch Abstraktion zu bewahren.'
Von dem Schriftsteller Robert Walser wird gesagt, dass er im Laufe seiner Arbeit immer mehr die Fähigkeit verloren hätte, sein Augenmerk auf das Zentrum eines Romangeschehens zu richten und stattdessen sich in das Anschauen der an der Peripherie des Gesichtsfeldes auszumachenden Dinge verliebte. Ein bisschen, finde ich, ist mit Letzterem etwas über deine jüngeren Filme gesagt - oder haben die ein Zentrum?
Wenn ich mich nicht irre, kreisen diese Filme um ein kollabierendes System, dessen überforderten Akteuren – blind vor Eifer – anscheinend Hören und Sehen vergangen ist. Gebetsmühlenartig drehen sie – wie Gefangene ihrer selbst – am Rad des Konsums, der in den Filmen auf der mechanischen Ebene der Ausbeutung, der Produktion und der Freizeit reflektiert wird. In dem tranceartigen Zustand, in den sich die Akteure gedreht haben, droht ihnen die Achse des Rades aus dem Gesichtsfeld, und drohen sie selbst an die Peripherie des Geschehens zu geraten (die dafür verantwortlichen Fliehkräfte nehmen bekanntlich mit der Entfernung vom Zentrum zu). Diesen zentrifugalen 'Roman' als Addition von Abläufen und sich wiederholenden Vorgängen auszumachen und konzentriert aufzuzeichnen, liebe ich. Der trancehafte Mechanismus selbst und dessen Darstellung in collagenhafter Form (Montage: Bert Schmidt), deren Gestalt sich erst beim hörenden Betrachter konfiguriert, mag die bei Walser konstatierte Wahrnehmungsverschiebung an die Peripherie suggerieren, bewusst vollzogen oder beabsichtigt ist sie nicht.
Täusche ich mich oder ging mit der neuen Art deiner Filme auch so etwas wie eine Leichtigkeit einher. Nicht dass die Themen leichtgewichtig wären, auch nicht die Gedanken, die man sich macht - doch entsteht beim Anschauen etwas Schwebendes, für das ich derzeit kein besseres Wort als Leichtigkeit weiß. Ist das etwas, was du anstrebst? Und: ist die zuweilen bei der Arbeit selbst auch spürbar oder überwiegt dabei doch die Anstrengung?
Immer, wenn es zu anstrengend, langweilig oder unübersichtlich zu werden droht, sage ich mir: Konzentrier dich auf die Geräusche. Geräusche werden ausschließlich durch mechanische Bewegung erzeugt, und mechanische Bewegung ist gut für die Kamera. Die (lustvolle) Freude an reiner Bewegung oder Choreografie – wie in der Slapstick Comedy –, verbunden mit dem Montageprinzip, 'dass die Bilder wechseln, bevor wir uns an ihnen festschauen können' (Manfred Riepe), hat etwas Spielerisches an sich und kann den Eindruck von Leichtigkeit erzeugen, selbst wenn die Sache vielleicht schwer ist wie in Deer Lodge State Prison, wo auch Todesurteile vollstreckt werden. Statt der Apokalypse zeigt der Film [„Milltown, Montana"] Gefangene, die Autoschilder mit dem Montana-Label „Big Sky“ und mit Buchstabenkombinationen bedrucken, die von Ernst Jandl stammen könnten. Und in welchem Rhythmus das Klacken der Stanzmaschine geschnitten ist, erinnert an den Rhythmus eines Thelonious Monk. Die Szene mit dem Lassowerfer auf der Gefängnisranch entstand so: Wir schlenderten über das Gelände und hielten bei einem aus Blech modellierten Kuhkopf und einigen gesattelten Pferden an, als ein roter Truck mit der Aufschrift „Inmate“ und einer bimmelnden Kuhglocke an der Stoßstange vorfuhr und stoppte. Wegen des Geräuschs der Kuhglocke und des röhrenden Truckmotors bat ich den Fahrer, der unter anderen Umständen sein Geld auch als Dressman hätte verdienen können, für Kamera und Mikrofon noch einmal vorzufahren. Der dreibeinige Kuhkopf erinnerte an ein Readymade von Duchamp, und so bat ich den gut aussehenden Fahrer anschließend um eine Lassoübung. Welche 'Palette' von Geräuschen ein Lasso macht – ein fast metallisches Reibegeräusch beim Einrollen; ein Klatschen, wenn es auf den Lederschurz trifft, ein Pfeifen, wenn es geschwungen wird; einen blechernen Hohlklang, wenn es sich um den Kuhkopf schlingt – das entdeckten wir erst bei der Aufnahme.
Du hast in jüngerer Zeit zwei bemerkenswerte Trilogien über Orte gemacht, Orte im Jemen, in Japan oder in Alaska. Wodurch wird ein Interesse oder eine Faszination an einem Ort bei dir ausgelöst? Und kannst du einmal beschreiben, wie du beim Drehen vorgehst, dich einem Ort, den Menschen annäherst?
Für die Trilogie „ErdBewegung“ suchte ich eine Straße, die durch dünn besiedeltes Gebiet, fernab von städtischer Zivilisation führt und dachte dabei an die Mongolei – ohne zu wissen und deshalb zu bedenken, dass im Jahr 2001 Filme über die Mongolei im deutschen Fernsehen schon Legion waren. Darauf machte mich Inge Classen, Leiterin der Filmredaktion von ZDF/3sat und Koproduzentin der Trilogie, aufmerksam und schlug mir stattdessen Alaska vor. Alaska ist riesig, und auf dem bekannten Pan-American Highway, der von Anchorage über Fairbanks nach Prudhoe Bay führt, wollte ich die Kamera nicht aufstellen. Da erinnerte ich mich, dass Dore O und Werner Nekes vor längerer Zeit in Alaska waren, und ich fragte Dore: 'Wo genau?' 'In Nome', antwortete sie und zeigte mir vergilbte Fotos von sich im Schnee. Noch aus der Goldgräberzeit würde es dort ein Kino mit roten Plüschsesseln geben, und ein Ei im Geschäft kostete vier Mark. Klar, Haushühner gedeihen nicht am Polarkreis, was mich aber nicht davon abhielt, das mir gänzlich unbekannte ‚Nome’ als Schauplatz zu wählen.
Eine Vorbereitung vor Ort kam aus Zeit- und Kostengründen nicht in Frage, stattdessen erforschte ich das Gebiet erstmals im Internet, das ich gerade für mich entdeckt hatte. Dort erfuhr ich: Nome liegt an der Beringstraße, erreichbar in der eisfreien Zeit nur per Schiff oder ganzjährig per Flugzeug, eine Straßenverbindung zum übrigen Alaska existiert nicht. Die wenigen Pisten, die von Nome wegführen, enden nach eineinhalb Stunden Fahrzeit in einem ehemaligen Goldgräbercamp in der Tundra oder an der Nordküste der Seward Peninsula in der Eskimo-Ansiedlung Teller. Für Goldrauschnostalgiker gibt ein kleines Touristenbüro am Strand von Nome, dessen Leiterin Leslie Seamon mir in E-Mails den Ort (Slogan: 'There’s No Place Like Nome') in leuchtenden Farben schilderte. Eindeutig überwog bei ihr jedoch die Farbe Pink. Sie lebten dort wie in einer großen Familie, schrieb sie, jeder sei für den anderen da. Und diese Harmonie könne auch nicht durch schlimmes Verbrechen aus jüngster Zeit getrübt werden. Zwei Schlittenhunde seien erschossen worden, und der jugendliche Täter sei hart dafür bestraft worden. Ich befürchtete, wenn Leslie meine einzige Informantin bleiben würde, dann müsste ich mit dem Film Schiffbruch erleiden. Deshalb rief ich Alexander in Frankfurt an, von dem ich wusste, dass er mit einem Faltboot den Noatak River heruntergepaddelt war, der nördlich von Nome in den Kotzebue Sound mündet. Alexander hatte ich über Peter Nestler in Polen kennen gelernt. Er hatte die Erinnerungen von Toivi Blatt, einem Überlebenden des Vernichtungslagers Sobibor (und Protagonist von Peters Film), ins Deutsche übersetzt, und kam uns deshalb bei den Dreharbeiten besuchen. Alexander nannte mir Susan Steinecker, die sich in Nome gut auskannte. Als er sie am Noatak traf, hatte sie einen russischen Freund dabei, der später mit einem Hubschrauber in Sibirien abgestürzt war. Über die Adresse ihres Exmannes konnte ich sie erreichen und wurde gleich weitergereicht an Jim Stimpfle, den Inhaber von New Frontier Realty, den Immobilienmakler von Nome. Jim war ein Glücksfall, nicht nur für den Film. Als ich, zehn Tage bevor das Team kam, in Nome eintraf, war seine Frau Bernadette gerade zu einem Computerkurs nach Kanada gereist, und der schwergewichtige Jim ging jeden Morgen um halb Acht zum Frühstück in Fat Freddies Polar Café. Hier machte er mich mit seinen Freunden bekannt: einem Schiffschlosser vom Hafen, einem Krankenpfleger, der von der Nachtschicht kam, und Buddy Rehm, einem Goldsucher aus Arizona. Das war ein guter Einstieg in Nome. Vom Polar Café schwärmte ich aus und bekam überall, selbst im Gefängnis, eine Drehgenehmigung, mit Ausnahme des ölgetriebenen Kraftwerks, wo man wohl dachte ich sei ein Greenpeace-Agent aus New York. Auch ein Gunmaker, ein traumatisierter Veteran der Special Forces, wollte sich nicht filmen lassen. Von Jim lieh ich mir für die Recherche eins von seinen Autos, einen klapprigen, schwarzen Toyota und später ein Fahrrad, als sein Sohn sich mit dem Wagen überschlagen und ihn dabei zu Schrott gefahren hatte.
Zuerst interessierten mich die Goldgräber, übrig gebliebene Einzelgänger, nachdem die Alaska Gold Company die Förderung eingestellt und ihre riesigen Goldbagger als düstere Mahnmale in der Landschaft zurückgelassen hatte. Jobs gab es fast nur beim Staat oder bei der Stadt Nome: im Hafen, im Gefängnis, im Krankenhaus. Im Norton Sound Hospital spielte eine Alzheimer-Patientin auf verstimmtem Klavier einen Yankee-Doodle für mich, aber leider durfte ich sie nicht aufnehmen. Statt im großen Stil Gold zu fördern, wurden in Nome jetzt Steine zu Schotter gemahlen und verschifft, und ohne Rücksicht auf den Landschaftsschutz wurde dafür das malerische Cape Nome weggesprengt. Vielmehr gab es nicht in Nome zu besichtigen. In den Bars war nichts los, und betrunkene Eskimos, die sich wie ihre Verwandten in Sibirien 'Inupiat' nennen, wollte ich nicht zeigen. Die anderen 'Modelle', den Musher Joe Garney aus Teller und die Schützen in den Jagdszenen entdeckte ich auf Fahrten entlang der Pisten – so auch den Fuchs im Goldgräbercamp von Betty Krutch. Angelockt durch Schokolade traute der sich ganz nah vor die Kamera. Einen ordinären Fuchs im exotischen Alaska aufzunehmen, wo man stattdessen Grizzlies und Moschusochsen erwartet, bereitete mir ein besonderes Vergnügen. 'Ich bin nicht Discovery Channel', gab ich mir selbst die Losung aus, bedauerte am Ende aber doch, keinen Sandhill Crane habe filmen zu können, die sich an einem Tag im Frühherbst zu Zehntausenden vor dem Abflug in den Süden versammeln. Aber mit der Nagra konnte Michael Busch ihren durchdringend krächzenden Ruf aufnehmen, und so sind sie wenigstens auf der Tonspur zu hören, um die es mir ja im Besonderen geht.
Ähnlich wie in Nome habe ich auch die anderen Filme vorbereitet. Zuerst orientiere ich mich an geografischen Koordinaten, dem Korridor entlang einer Straße in Indien oder Alaska, an der Küstenlinie in Kobe, der Oase in Ma’rib, der Interstate 90, die gekreuzt wird vom Highway 93, in Montana. Dann gucke ich, wer oder was bewegt sich dort und macht dabei welche Geräusche, was ist typisch daran gerade für diese Gegend oder Landschaft, und wie und von was leben die Leute da. Dann suche ich auch nach parallelen Motiven, die das aktuelle Projekt mit früheren verbinden, etwa den Bergbau, eine Freizeiteinrichtung oder ein Krankenhaus. Nach den Straßen der Trilogie bin ich an Orte gegangen, die in der Vergangenheit zerstört wurden. Auslöser dafür waren die Anschläge von New York, London und Madrid. Im Bewusstsein, dass alles mindestens einmal gefilmt wurde und vieles mehrmals oder unendlich oft, gebe ich mir zusätzlich zum dialogfreien Bild-Ton-Konzept selbst Spielregeln, um mich zu motivieren, das schon Gefilmte noch einmal zu filmen. Das sind in der Tetralogie die vier Elemente, die jeweils ein Leitmotiv sind: Wasser in Kobe, Erde/Sand/Stein in Ma’rib, Luft in Montana, Feuer/Licht im Ruhrgebiet. Und weil mir das als Motivation noch nicht reicht, versuche ich, ähnlich wie die Oulipo-Leute durch formale Zwänge in der Literatur, etwas für den Ort Wesentliches wegzulassen bzw. nicht zu filmen: den Autoverkehr in Kobe, die Religion in Ma’rib, die Jagd in Montana.
„Big Sky“, wie sich der Staat Montana und das Filmfestival in Missoula nennen, brachte mich auf die Fährte 'Luft'. Gleichzeitig ist der Film Bestandteil der deutsch-tschechischen Serie „Breathless“. Das führte mich zur Asbestose-Klinik von Libby, wo ehemalige Arbeiter einer Asbestmine, die buchstäblich ohne Luft bzw. Atem sind, untersucht werden. „Breathless“, metaphorisch gelesen, korrespondiert mit dem Faktor 'Zeit'. Das brachte mich auf die Idee, die verschiedenen Zeitschichten der Besiedlung bzw. Kolonisierung Montanas zu zeigen, sofern sie heute noch sichtbar sind. Die ersten Menschen, die vor 17.000 Jahren über die Beringstraße kommend den amerikanischen Kontinent betraten, waren die Indianer bzw. Inuit. Die ersten Europäer, die in die Wildnis Montanas eindrangen, waren französische Pelztierjäger, auch 'Mountain Men' genannt. Dann kamen Büffeljäger, gefolgt von Goldsuchern, Schienen für die Eisenbahn wurden verlegt. Mit dem 'Homestead Act' von 1862 lockte die Regierung in Washington Farmer und Rancher ins wilde Montana, Bars und Saloons machten auf, und in diesem Ambiente siedelte Howard Hawks seinen Western „Big Sky“ an, den ich als Gattung mit der Gefängnisranch von Deer Lodge zitiere bzw. parodiere. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann der Abbau von Bodenschätzen im industriellen Maßstab, vor allem die Förderung und Schmelze von Kupfer in Butte und Anaconda. Der Bergbau benötigte Holz zum Ausbau von Strecke und Streb, viel Holz. Also zeige ich das inzwischen stillgelegte, große Sägewerk bei Milltown, wo es einen Damm mit einem Wasserkraftwerk gab, um den Energiebedarf der elektrischen Sägen und Hobel zu decken. Der inzwischen abgerissene Damm liegt an einem Fluss, dem Clark Fork River, der bei Butte entspringt. Jahrzehntelang wurden dort Schwermetalle und Gifte wie Arsen eingeleitet, die das Flussbett bis zum Milltown Dam hin vergifteten. Planierraupen verladen das kontaminierte Erdreich in schwarze Waggons, die auf einer Deponie wieder entladen werden. Auf halber Strecke passieren sie einen schwarzen Tunnel, der neben einem Wildwechsel liegt, was einigen Rehen und Kojoten zum Verhängnis wurde. Zwischen den Gleisen filmte ich ein überfahrenes Reh und in Großaufnahme dessen leere Augenhöhle.
Auf das Augen-Motiv war ich erst während des Drehs und bei einem Besuch der Universität von Missoula gekommen. Auf der Suche nach einem Dozenten, mit dem ich einen Filmvortrag verabreden wollte, spähte ich durch eine halb geöffnete Tür in einen abgedunkelten Hörsaal. Dort wurde gerade Buñuels „Un Chien Andalou“ gezeigt mit der bekannten Auge-Szene am Anfang, die von mir in der Branding-Szene zitiert wird: das schreckgeweitete Auge des zu Boden geworfenen und gefesselten Kalbes, das heftig atmend bzw. schnaufend den Sand hochbläst (Element 'Luft'). Das darauf folgende leere Rehauge habe ich, vielleicht etwas banal, so gedeutet: die Leute an den Bildschirmen und vor den Bildern müssen heute so viel sehen, dass sie am Ende (eines Tages, eines Monats, eines Jahres, eines Lebens) nichts mehr sehen. Meine Antwort darauf ist Reduktion.
Deine jüngeren Filme sind dokumentarisch, kommentarlos, materialistisch - wo in ihnen stecken die Emotionen?
Deine Frage suggeriert, dass Gefühle im Film vornehmlich durch Protagonisten, durch ein mehr oder weniger dramatisches Geschehen, in das sie verwickelt sind, also durch Personalisierung generiert werden. Flaherty hat mit „Nanook of the North“ den dokumentarischen Prototyp für dieses 'Helden'-Genre geschaffen. Dass Helden im Dokumentarfilm keine bezahlten Schauspieler, sondern reale Personen mit einem Leben vor und nach dem Film sind, wird dabei leicht übersehen, so auch die Tatsache, dass Nanook schon bald nach Fertigstellung des Films, der ein Welterfolg wurde und ihn 'unsterblich' gemacht hat, gestorben ist. Flaherty behauptete sogar, Nanook sei verhungert. Unkalkulierbare Verantwortlichkeit für Protagonisten war es auch, die Kieślowski veranlasst hat, vom Dokumentarfilm zum Spielfilm zu wechseln, um hier, ungehemmt von Rücksichten und Verantwortlichkeiten, Emotionen dort zu zeigen, wo sie für ihn am elementarsten sind, im Schlafzimmer, wo geboren, geliebt und gestorben wird. Da mich im Dokumentarfilm, vom Gefühl und vom Bewusstsein her, aber gemeine Plätze anziehen, intime Orte und Situationen dagegen überhaupt nicht, bin ich, wenn auch postmodern domestiziert, „Der Mann mit der Kamera“, der sich den Korridor einer Straße im Ruhrgebiet, eine Oase am Rand der Wüste Rub’ al Khali oder eine Hafenstadt in Japan als Helden nimmt. Und wer sich den anonymen, nur über Bewegung sich mitteilenden Menschen in diesen Filmen zuwendet, wird sein Gefühl und sein Bewusstsein für die Widersprüche, denen sie ausgesetzt sind, entdecken, und er wird bei allen Widersprüchen auch Sympathie für den kollektiven Helden Straße, Oase, Hafenstadt empfinden und eine „Traurigkeit im Sommer“ wie bei der Betrachtung eines 'schönen Menschen' im gleichnamigen Gedicht von Jannis Ritsos:
Ein schöner Mensch, der Dörfler, ausgestreckt im Schatten der Platane.
Um ihn braust die goldene Sonnenhitze, atemlos. (…)
Er stand auf. Nahm ein Bündel Holz unter den Arm.
Nahm ein Kind an der Hand und entfernte sich im Hintergrund des goldenen
Mittags. Zwei Meter hinter ihm folgte die schmale Frau.
Unendliche Traurigkeit:
Niemand wird ihm sagen, daß er schön ist. Er wird es nicht erfahren.
Doch statt pathetischer Formeln wie „braust die goldene Sonnenhitze“ oder „unendliche Traurigkeit“ mache ich es emotional ‚cooler’, musikalischer, spielerischer. Eine Ausbeutung von Gefühlen derer, die sie vermitteln und rezipieren, soll nicht stattfinden; aber das mit der Schönheit ist okay.