Die Farbe des Geldes. Dokumentarfilme zur New Economy.
Über Peter Kriegs "Die Seele des Geldes"
von Gerhard Bliersbach
Dokumentation der dfi-Tagung vom 26./27. Januar 2001
Einführung von Gerhard Bliersbach
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe das Vergnügen, Sie mit dem ersten Teil Geld-Schöpfung des dokumentarfilmischen Essays von Peter Krieg Die Seele des Geldes bekannt zu machen. Das Vergnügen ist auch eine Last; denn ich weiss nicht recht, wo ich beginnen soll. Sie erinnern sich sicher an den Charles Walter-Film "High Society" aus dem Jahre 1956, in dem Celeste Holm und Frank Sinatra das Cole Porter-Lied sangen Do you want to be a millionaire? Sie erinnern sich an den Refrain des Liedes, den die beiden überzeugend mehrmals wiederholten: I don't! I don't!. Frank Sinatra hatte gut singen. Wahrscheinlich war er damals schon Millionär - nach seinem künstlerischen Wiederanfang und seiner Kooperation mit Nelson Riddle und Billy May. Heute rufen täglich gut tausend Leute, die sich bei dem privatrechtlichen Sender RTL für die Rate-Show melden, in der man steuerfrei kassieren kann, wenn man kann: Ich will! Ich will!
Wer will nicht?
Der Soziologe Ulrich Beck hat den Wunsch, ein eigenes Leben zu führen, als die moderne Lebensabsicht bezeichnet. Dieser Wunsch, eine Variation unserer westlichen Idee von Autonomie und Selbstentfaltung, ist voraussetzungsvoll; will man ihn leben, sollte man finanziell einigermaßen ordentlich ausgestattet sein. Seit der Präsidentschaft von Ronald Reagan beobachtete ich, wie die Fantasie vom schnellen Reichtum sich durchzusetzen begann wie eine Wetterlage: Frank Sinatra dachte sehr erfolgreich musikalisch laut nach: If I can make it there, I make it anywhere; New York City wurde die touristische Attraktion und zur Metapher einer Stadt des enormen Reichtums; Oliver Stones Wallstreet machte 1987 das schnurlose Telefon und die breiten Hosenträger und das mit Brillantine zurückgekämmte Haar populär, während der Yup - der Young Urban Professional - allmählich an Attraktion verlor, - schließlich hatte Tom Wolfe ihm 1987 in seinem Roman der kapitalistischen Exerzitien Fegefeuer der Eitelkeiten den Garaus gemacht.
Das ist der eine Aspekt von Peter Kriegs Film-Essay: Die psychosoziale Bedeutung öffentlich kursierender Fantasien, auf die wir mehr oder weniger eingestimmt sind. Geld ist ein Paradoxon: Nehme ich eine Banknote aus dem Portemonnaie, scheine ich es in der Hand zu haben. Aber was ist es? Was besagt die Ziffer auf der Banknote? Wofür steht sie? Sicher, wir wissen, was wir für 50 Mark kaufen können. Was wissen wir noch? Dass der Tausch und der Handel dadurch standardisiert sind? Peter Krieg sagt Ihnen: Wir wissen nicht, was das Geld ist. Geld ist ein Beispiel dafür, wie wir unsere Wirklichkeiten herstellen und wie wir blind sind für die Herstellung unserer Wirklichkeiten. Er sagt zur Absicht seines Films: es gehe ihm um die "Ent-Trivialisierung von Politik" - also um die Aufklärung über Wirklichkeiten, die mit bedeutsamen Fantasien unterfüttert sind und von ihnen auf unklare Weise bewegt werden. Sie sind gewissermaßen die Seele einer Wirklichkeit. Das Geld ist das Beispiel, mit dem er seine Absicht exempliziert.
Peter Krieg benutzt die Konzepte, die Lloyd DeMause, New Yorker Psychohistoriker, der gleich mehrmals zu Wort kommen wird, entwickelt hat: die Gruppen-Fantasie, der Fantasie-Führer, das Opfer und die Psycho-Klasse. Ich werde etwas ausholen. Psychohistorie, im deMauseschen Zuschnitt, ist psychoanalytisch orientierte Geschichtsschreibung und politische Tiefenpsychologie in einem. 1976 veröffentlichte Lloyd de Mause in der psychoanalytischen Fachzeitschrift Psyche den Aufsatz "Psychohysterie und Psychotherapie" und stellte am Beispiel von Richard Nixon die Frage, welche Bedeutung die psychische Gesundheit unserer politischen Führer für uns hat (1).
Lloyd deMause illustrierte an Richard Nixon, bei dem man, psychiatrisch gesprochen, eine paranoide Struktur vermuten kann, das beunruhigende Diktum des britischen Psychoanalytikers Wilfred R. Bion, dessen Arbeiten er aufgenommen hat: dass eine Gesellschaft, salopp gesagt, sich die Verrücktesten zu ihren Führern wählt. Übrigens folgt der 20 Jahre später entstandene Film von Oliver Stone Nixon dieser Einschätzung.
Zwei Jahre später legte de Mause den Aufsätze-Band "Hört Ihr die Kinder weinen?" bei uns vor (2). In dem Einleitungsaufsatz entwarf de Mause nichts weniger als eine Evolutionstheorie der Sozialisationsmuster. Auf eine Formel gebracht, lautete sie: Die Qualität der Kindererziehung, die erst spät anzutreffende Fähigkeit der Eltern, sich in die Bedürfnisse der Kinder helfend einzufühlen, hat sich sehr langsam entwickelt - und erst im 19. Jahrhundert hat die Kindheit den Charakter eines Alptraums zu verlieren begonnen. Diese Progression der Sozialisationsmuster bestimmt, vermutete de Mause, nicht nur unsere Sozialbeziehungen, sondern ebenso unsere politische Kultur mit; sie entscheidet darüber, welche politischen Institutionen geschaffen, welche Herrschaftsformen etabliert und welche Umwelten hergestellt werden. Gesellschaft, so verstanden, ist das Produkt kollektiver Interaktionen und komplizierter sozialer Delegationsprozesse, die sich in politischer Herrschaft auswirken.
Reduziert de Mause die psychosozialen, politischen Prozesse aufs überschaubare Rechteck der Familienstube? Kann man ihm "familialistisches Psychologisieren" vorwerfen - ein Begriff, den Alfred Lorenzer prägte? Ich meine, nicht. De Mausepräsentiert ein Bewegungs- oder Funktionsprinzip einer psychoanalytischen Gesellschaftstheorie, mit welchem die alte Frage zu beantworten versucht wird, was eine Gesellschaft bewegt und zusammenhält. Das Bewegungsprinzip sind nicht die Antagonismen der Klassen-Differenzen, sondern der Konflikt der"Psycho-Klassen", der Veränderungen eines Kollektivs vorantreibt. UnterPsycho-Klasse versteht de Mause eine Gruppe von Individuen, die, weil sie ähnlich sozialisiert wurden, ähnliche Persönlichkeits - und Beziehungsstrukturen aufweisen und den dynamischen Einfluss einer "Klasse" besitzen (3). Spannungen entstehen dadurch, dass in einer Gesellschaft Psycho- Klassen unterschiedlichen Niveaus miteinander leben und auskommen müssen. Und diese Spannungen beeinflussen die Existenz oder die Entwicklung kollektiv geteilter Gruppen-Fantasien - ein weiterer psychohistorischer Begriff, von dem Sie gleich etwas erfahren werden. Gruppen-Fantasien sind der Niederschlag der psychosozialen Prozesse innerhalb eines Kollektivs - sie entsprechen dem, was heute als "Mentalitätsgeschichte" untersucht wird. Sie sind einmal das, was Erik Homburger Erikson, der Psychoanalytiker und Psychohistoriker, dessen Buch "Kindheit und Gesellschaft" ich für immer noch sehr lesenswert halte, vor allem das für uns so bedeutsame Kapitel über die Jugend Adolf Hitlers und das typische reichsdeutsche Sozialisationsmuster, den "emotionalen Zustand einer Nation" nannte - die Gewissheit einer kollektiven Identität, mit der zu leben ein gutes Grundgefühl vermittelt (4). Zum anderen enthalten Gruppen-Fantasien das, was, ein schwieriges Konzept, den weit verbreiteten Abwehr-Operationen unterliegt - Sie kennen das bundesdeutsche Beispiel des Psychoanalytiker-Ehepaares Margarete und Alexander Mitscherlich, das die westdeutsche "Unfähigkeit zu trauern" diagnostizierte (5) -: nämlich die in einer Gesellschaft latent gehaltenen Konflikte und Probleme, die Angst- und Wunschträume; Gruppen- Fantasien leisten deren Abwehr.
Gruppen-Fantasien suchen sich und delegieren die politischen Führer, die deshalb für Lloyd deMause Fantasie-Führer sind - dazu beauftragt, die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger zu garantieren und "sehr tiefe und sehr ambivalente Ängste zu beseitigen" und deren Idealisierungen zu realisieren (6). Deshalb das ständige Rufen der Öffentlichkeit nach einem überzeugenden" starken" Politiker. Deshalb das penible Registrieren und Bilanzieren aller seiner Stärken und Schwächen. Eine Abhängigkeit vom Zustand der Gruppen-Fantasie ist die Folge. Und die Medien, neben ihrer Kontrollfunktion und Differenzierungsfunktion - von der Niklas Luhmann sprach - beobachten sehr genau, wie ein Politiker seine Fantasie-Führer-Aufgabe meistert: Tag für Tag wird ihm in der öffentlichen Diskussion der Eindruck seiner Leistung oder seines Scheiterns vermittelt, auf den er wiederum zu reagieren hat. Politik gerät so in den Sog kursierender Gruppen-Fantasien: unter der öffentlichen Aufsicht gilt die Sorge der Regierungen dem sogenannten "Image", das ihre Politik hinterlässt. Image, würde de Mause sagen, ist der Grad des Zusammenpassens von Politik undGruppen-Fantasie.
Dass Politik sich an der Kosmetik ihres Images in der Öffentlichkeit orientiert droht, lässt sich seit der Präsidentschaft von Jimmy Carter beobachten. Lloyd de Mause und seine Mitarbeiter sagten am Ausgang der 70er Jahre präzis voraus, dass Jimmy Carter schon bald nach seinem Amtsantritt demontiert werden würde(7). Jonathan Schell, der US-Autor, der mit seinem Buch The Fate of the Earthüber die verheerenden Wirkungen der Atomwaffen bekannt wurde, hat anhand der Richard Nixon-Regierung detailliert beschrieben, wie das Polieren des öffentlichen Images die Substanz einer Politik ersetzte - Richard Nixon etablierte eine "Time of Illusion", so der Titel seines Buches, mit der seine Probleme zu kaschieren versuchte und sein Scheitern beschleunigte (8).
Das Geld, ich komme langsam wieder zu Peter Kriegs Film zurück, trägt das Malder Schuld; es gehörte früher, dazu interviewt Peter Krieg Lloyd de Mause, zum Ritual des Opfers, mit dem die unklaren Schuldgefühle, Ausdruck einer tiefen Bindung und eines regressiven Wunsches, vertrieben werden sollen. Es ist die Substanz einer tiefen Ambivalenz. Es gehört zu den Produkten unserer Zivilisation, deren Vorderseite wir kennen, von deren Rückseite wir aber nichts wissen. Davon handelt Peter Kriegs Film.
In seinem Londoner Exil schrieb Sigmund Freud 1938 diesen gegen René Descartes gerichteten Satz: "Psyche ist ausgedehnt, weiss nichts davon" (9). Es geht, und von dieser schwierigen und beunruhigenden Frage handelt Peter Kriegs Film, um das Problem der Wirklichkeiten, in denen wir uns bewegen, und wie wir diese Wirklichkeiten differenzieren, gesellschaftlich einrichten und uns darüber verständigen oder nicht verständigen.
Der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott sprach von unserer - individuellenlebenslangen Anstrengung unterscheiden zwischen sich und den anderen, zwischen inneren und sogenannter äußeren Wirklichkeiten – es gibt ständige Übergänge, Übergriffe, Zwischenräume (10). Fantasien heben die Grenzen der Differenzierung auf und füllen die Zwischenräume aus: Wir sortieren ständig zwischen unseren Selbst-Empfindungen und unseren Projektionen, mit denen wir ausgreifen, kontrollieren oder terrorisieren. Es waren die britischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker um Melanie Klein und Wilfred Bion, die das Konzept der Projektion erweiterten zu einem Beziehungsmodus, mit dem wir innere und äußere Wirklichkeiten regulieren (11). Fantasien differenzieren Wirklichkeiten. Winnicott schrieb einmal: "Phantasieren ist teil der Anstrengung des Individuums, mit der inneren Wirklichkeit zurecht zu kommen. Man kann sagen, dass Phantasien und Tagträume omnipotente Manipulationen äußerer Wirklichkeit sind. Die omnipotente Kontrolle der Realität setzt eine Phantasie über die Realität voraus. Das Individuum erreicht die äußere Wirklichkeit mit der Hilfe der omnipotenten Phantasien, die in dem Bemühen gestaltet wurden, der inneren Wirklichkeit zu entkommen" (12).
Die Fantasien, welche wir im Kopf haben, bleiben nicht in unseren Köpfen. Unsichtbare Motoren psychosozialer Prozesse, drängen sie Wirklichkeit zu werden. Sigmund Freud wusste das sehr genau; er schrieb 1908: "Phantasien werden von unbefriedigten Wünschen genährt, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit" (13). Das Kino greift sie auf, artikuliert sie und hilft bei der Differenzierung und Entwicklung von Wirklichkeit. Denken Sie, ein Beispiel, an Oliver Stones WallStreet und an das schnurlose Telefon. Das ist mehr als jener statische Spiegel, von dem Siegfried Kracauer 1928 sprach, als er in seinem methodologischen Pilot-Text von den "kleinen Ladenmädchen" Freuds Konzept anzuwenden probierte (14). Die Frage ist: In welchen Wirklichkeiten bewegen wir uns? Ist die Neue Ökonomie, auf Neuhochdeutsch New Economy genannt, Fantasie oder, wie man auch sagt, "harte Wirklichkeit"? Wie hart ist sie? Offenbar ziemlich weich. Das entdecken wir, seit die Neue Ökonomie sich am Kursverfall reibt. Sie ist beides; das ist das Problem. Wir müssen, wie gesagt, ständigsortieren. Und was ist der Kursverfall? Fantasie? Ökonomische Wirklichkeit? Eine Reihe von Leuten soll viel Geld verloren haben. Haben sie etwas verloren? Wie gewonnen, so zerronnen, sagt man, wenn der schnelle Spiel-Erfolg kassiert wird von der schnellen Niederlage. Spielen wir in einer Art Zwischenwirklichkeit, wenn wir uns in den kursierenden Fantasien bewegen? Lloyd de Mause macht darauf aufmerksam, wie sehr wir eingestimmt sind auf Gruppen-Fantasien, deren Grad oder Niveau von Wirklichkeit wir ausmachen, wenn wir uns die Augen reiben und entdecken, wohin wir geraten sind. "Psychisches ist ausgedehnt, weiß nichts davon". Der Prozess der Differenzierung ist schwierig; der Moment des Eingestimmtseins auf die kursierenden Gruppen-Fantasien manchmal gefährlich.
Davon zeugen nicht nur die katastrophalen deutschen zwölf Jahre, sondern, wenn wir unsere Republik im Blick haben, der bundesdeutsche Alltag. Ich wünsche Ihnen anregende 44 Minuten mit Peter Kriegs Film- Essay..
Ich danke Ihnen!
Literatur
1) Lloyd de Mause (1976): Psychohysterie und Psychotherapie. Psyche 30, S. 436- 441
2) Lloyd de Mause (Hrsg.): Hört Ihr die Kinder weinen? Frankfurt am Main:Suhrkamp 1978
3) Lloyd de Mause (1979): Historical Group-Fantasies. The Journal ofPsychohistory 7, Heft 1 (Sommer 1979), S. 1 – 70
4) Erik Homburger Erikson: Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett-Cotta1965
5) Margarete und Alexander Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Müchen:Piper 1967
6) Lloyd de Mause: The Fetal Origins of History. In: L. de Mause: Foundationsof Psychohistory. New York, New York: Creative Roots, Inc. 1982
7) Lloyd de Mause: Jimmy Carter und American Fantasy. In: L. de Mause:Foundations of Psychohistory. New York, New York: Creative Roots, Inc. 1982
8) Jonathan Schell: The Time of Illusion. New York: Vintage Books 1975
9) Sigmund Freud: Ergebnisse, Ideen, Probleme. Gesammelte Werke Bd. XVII.Frankfurt am Main: S. Fischer 1966
10) Donald W. Winnicott: Playing and Reality. London: Penguin 1980
11) Melanie Klein (1946): Notes on Some Schizoid Mechanisms. In: M. Klein: Envyand Gratitude and Other Works 1946 - 1963. London: The Hogarth Press 1975.Wilfred R. Bion: Second Thoughts. London: Maresfield Reprints 1984
12) Donald W. Winnicott: The Manic Defense. In: D.W. Winnicott: ThroughPedriatrics to Psycho-Analysis. London: The Hogarth Press 1982
13) Sigmund Freud (1908): Der Dichter und das Phantasieren. In: S. Freud:Gesammelte Werke Bd. VII. Frankfurt am Main: S. Fischer 1966
14) Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino. Aus: S.Kracauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963