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dfi-Symposium „Prozessieren. Zwischen dokumentarischen und juristischen Verfahren“, Januar 2024

Tagungsbericht und Tonaufnahmen

von Immanuel Esser

 

Das Symposium der Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW mit dem Titel „Prozessieren. Zwischen dokumentarischen und juristischen Verfahren“, das am 11. und 12. Januar 2024 im Filmhaus Köln stattfand, widmete sich dem Nahverhältnis von Dokumentarfilm und Judikative.

Michelle Koch, die die künstlerische Leitung des Symposiums von Judith Funke übernommen hatte, auf deren Vorarbeit sowohl die Idee als auch ein erstes Konzept der Konferenz fußte, versuchte in dem von ihr gestalteten Programm den Reichtum an filmischen Zugängen, Formen und Praktiken sichtbar zu machen, die der Dokumentarfilm nutzt, um sich mit Fragen von Recht, Wahrheitssuchen, Wahrheitsfindungen und Wirklichkeit auseinanderzusetzen.

In ihrer Eröffnung stellte sie einige Spannungsverhältnisse vor, die sie in der Entwicklung des Programms beschäftigt hatten: von (juristischem) Urteil und (dokumentarischer) Wahrheitssuche, politischer Haltung und (vermeintlicher) Neutralität, der An- und Abwesenheit von Kameras, der in diesem Kontext besonders hervorstechenden Frage nach der Beweiskraft von dokumentarischen Bildern als auch der Rolle von Massenmedien bei der Implementierung von Wahrheiten und Ideen von Recht sowie den Potenzialen des Dokumentarfilms, diese zu revidieren.

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Die Programmpunkte und Diskussionen wurden von Mala Reinhardt, Matthias Dell, Judith Keilbach und Michelle Koch moderiert. Aufgrund eines Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer mussten sich einige wenige der geladenen Gäste kurzfristig per Zoom zuschalten. Trotz vereinzelter Absagen von Teilnehmenden, denen die Anreise verwehrt blieb, war der Kinosaal an beiden Tagen gefüllt und die Diskussionen lebhaft – erfreulicherweise auch seitens eines großen studentischen Publikums –, was nicht zuletzt der gemeinsamen Sichtung ganzer Filme zu verdanken war.

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Nuremberg, the battle of the images

Vortrag von Sylvie Lindeperg (in englischer Sprache)

Den Auftakt zum ersten Tag, der im Zeichen von Prozessdokumentationen stand, machte die französische Historikerin Sylvie Lindeperg, die sich in ihrem Vortrag den Nürnberger Prozessen widmete, einem der ersten Gerichtsverfahren, das als Verbund juristischer und filmisch-inszenatorischer Praktiken angelegt war, um den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des Nationalsozialismus als Medienereignis einer (Welt-) Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Unter dem Titel „Nuremberg. The Battle of the Images“ kreisten Lindepergs Überlegungen, die sie mit Fotogrammen und Filmsequenzen untermauerte, um die Inszenierung, die Dreharbeiten und die Narrative der Bilder in den Nürnberger Prozessen. Nach ihren Ausführungen sei es keine Selbstverständlichkeit, dass von den Prozessen überhaupt Filmmaterial vorliegt. In den USA und Großbritannien war die Anwesenheit von Kameras im Gerichtssaal untersagt; in der UDSSR dagegen bestand damals bereits eine Tradition des Filmens von realen Gerichtsprozessen. Im Fall der Nürnberger Prozesse musste zunächst eine Aushandlung zwischen den unterschiedlichen Positionen der Siegermächte stattfinden, an dessen Ende schließlich eine streng begrenzte Anzahl von Kamerapersonen für jedes Land im Gerichtssaal genehmigt wurde, die sehr unterschiedliche Intentionen in der Prozessdokumentationen verfolgten und in deren Bildern sich schließlich auch radikal unterschiedliche Philosophien von Recht und Kino widerspiegeln.

Bis der amerikanische Hauptankläger Robert. H. Jackson entschied, einen „Dokumentenprozess“ zu führen, statt den Fokus auf Zeug:innen zu richten, schwebte den USA eine mitreißende Inszenierung von Zeug:innenaussagen vor, die sich an Hollywoods Courtroom-Dramen anlehnen sollte. Die Kameraleute des United States Army Signal Corps verfolgten schließlich den Anspruch einer neutralen Archivierung der Vorgänge, während die amerikanischen, britischen und französischen Wochenschauen das Bedürfnis des Publikums nach dramatischen und spektakulären Momenten der Verhandlung befriedigen wollten und die Absichten des sowjetische Kameramanns und Dokumentarfilmregisseurs Roman Karmen ganz von der dramatischen Form traditioneller sowjetischer Prozessdokumentation geprägt waren, in der es vor allem um die Darstellung der Gesinnung der am Prozess Beteiligten (auch der Zuschauer:innen und Journalist:innen) und weniger um die Abbildung des juristischen Verfahrens selbst ging.

Da die unterschiedlichen Kamerateams jeweils auf einen im Raum festgelegten Standort fixiert und zum Großteil hinter Glasscheiben verbannt wurden, um den Prozess nicht zu stören, sahen sie sich schnell mit den Grenzen ihrer Inszenierungsmöglichkeiten und nicht zuletzt mit problematischen Technik-, Ton- und Lichtverhältnissen konfrontiert. Während die Aufnahmen des Signal Corps jegliches moralische Drama als auch Interesse an den Details und den Interaktionen des sich in den Verhandlungen dargebotenen theatralen Spiels entbehren und die Koexistenz der Akteur:innen – für Levinas die konstituierende Essenz eines juristischen Prozesses – ausblenden, verstand das sowjetische Filmteam dank seiner Erfahrungen und seines Innovationsgeistes schnell, sich effektiv an die streng regulierte Drehsituation anzupassen und keine Bewegungen und Regungen im Raum zu verpassen. Während etwa das amerikanische Filmteam die Auftritte des Anklägers Robert H. Jackson aus dem Zuschauerraum und damit von hinten filmte, stellte das sowjetische Team die Beiträge ihres Anklägers Roman Rudenko in einer Gerichtspause nach, um ihn von vorne, nah und untersichtig zu filmen. Wie Sylvie Lindeperg deutlich machte, waren die Prozesse für die Sowjetunion tatsächlich ein politisches Fiasko, ihre filmische Darstellung präsentiert die Verhandlungen aber als von der Sowjetunion erfolgreich angeführte Verurteilung der Täter. Das deutlich später veröffentlichte Ergebnis der amerikanischen Filmaufnahmen fand hingegen wenig öffentliche Beachtung.

Trotz der starken Haltungen, aus denen heraus die Bilder angefertigt wurden, erweisen sich die Aufnahmen auch immer wieder als ein Dokument, das die schriftlichen Prozessprotokolle korrigiert oder ergänzt: Etwa dadurch, dass sie eben nicht nur den Wortlaut aufzeichneten, sondern auch zeigen, auf welche Art und Weise etwas gesagt wurde und welche non-verbalen Handlungen und Gesten um das gesprochene Wort herum stattfanden. So wurde Marie-Claude Vaillant-Couturier – Mitglied der Résistance, inhaftiert im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und erste Frau, die in den Nürnberger Prozessen sprach – nicht nur durch ihre Aussage in der Öffentlichkeit bekannt, sondern auch dadurch, dass sie beim Verlassen des Gerichtssaals konfrontativ mit jedem Einzelnen der Angeklagten Blickkontakt herstellte.

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PROZESS-REKONSTRUKTION MITTELS ARCHIVMATERIAL

Filmgespräch zu THE KIEV TRIAL mit Judith Keilbach und Sylvie Lindeperg (in englischer Sprache)

Im Anschluss an das Screening von THE KIEV TRIAL (NL/UA 2022) sprachen Judith Keilbach und Sylvie Lindeperg über Sergei Loznitsas Film, der aus im Rahmen des Kriegsverbrecherprozesses von Kiew aufgenommen Archivmaterial von 1946 besteht.

Keilbach hielt zu Beginn fest, dass Lindepergs vorherige Präsentation, vor allem der sowjetischen Inszenierungsweisen, eine Art Anleitung gegeben habe, den Film zu lesen, und wies auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Prozesse hin. Anders als bei den Nürnberger Prozessen konnte die Sowjetunion in diesem Prozess ohne Absprache mit anderen Staaten über die Darstellung des Verfahrens und der darin verhandelten Zeitgeschichte bestimmen. Lindeberg betonte, dass dieser wie auch die etwa zwanzig anderen sowjetischen Prozesse gegen Nazi-Verbrecher und deren russische Kollaboratuer:innen vor allem deshalb möglich gewesen seien, weil die Sowjetunion 1943 (im Zuge der Kraków Trials) die Todesstrafe wiedereingeführt und Verhandlungen in weitem Maße öffentlich zugänglich gemacht hatten. Die Prozesse von Kiew seien bereits ein Versuch der Sowjetunion gewesen, ein eigenes Narrativ des Krieges zu erzählen. Während es in Nürnberg nicht vorrangig um die Millionen sowjetischer Kriegsopfer gegangen war, rückten diese im Prozess von Kiew in den Fokus.

Loznitsa gibt vor allem den Zeug:innen, Opfern und Überlebenden der verfolgten Gräueltaten Raum, um ihre kaum vermittelbaren Erfahrungen mitzuteilen – in einer Sprache, die sich von den ideologiebeladenen Sprechweisen der deutschen Angeklagten und der sowjetischen Juristen (denen hier eine sehr kleine Rolle zukommt) deutlich unterscheidet. In Kiew standen keine international bekannten Täter:innen vor Gericht, und in den (meist vorgeschriebenen und teils auswendig vorgetragenen) Geständnissen aller Angeklagten besteht einer der Hauptunterschiede zu den Nürnberger Prozessen.

Anknüpfend an Lindepergs damalige Kritik an der Prozess-Struktur in Eyal Sivans Eichmann-Film UN SPÉCIALISTE (1999), der, so Lindeperg, sowohl den gesamten Prozess als auch die Wahrheit zerstöre, richtete sich das Gespräch auf Showelemente des Kiew-Prozesses und auf Loznitsas Montage des Achivmaterials – er beginnt mit Geständnissen, führt zu den Holocaust-Berichten und kehrt wieder zu den Geständnissen zurück, um den Film mit der öffentlichen Hinrichtung der Verurteilten durch den Strick zu beenden. Der Beweischarakter, der den Bildern der Urteilsvollstreckung zugeschrieben wurde, sei seinerzeit wohl ein zentrales Motiv für die Aufzeichnung dieses Moments gewesen und ein dramaturgischer Höhepunkt auch im sowjetischen Prozessfilm. Loznitsa arbeitet in seinem Film mit Naheinstellungen der Hinrichtungen – Bilder, die auch heute, wie etwa bei der Vorführung im Rahmen des Symposiums, starke emotionale Reaktionen hervorrufen und in der aktuellen Diskussion um Gewaltdarstellungen und Trigger-Warnungen die Frage aufwarfen, aus welchen Gründen solche Bilder gezeigt werden.

Lindeperg wie Keilbach konstatierten, dass bei THE KIEV TRIAL ganz grundsätzlich eine Verschachtelung von Vermittlungen vorliege. Der ursprüngliche Gerichtsprozess und die Herstellungsbedingung der sowjetischen Filmaufnahme, die ebenfalls das Produkt einer Mise en Scène sind, wie Lindeperg am Morgen anhand der Nürnberger Prozesse veranschaulichte, können nicht mehr rekonstruiert werden. Mit großer historischer Distanz verarbeitet Loznitsa – wie bereits bei THE TRIAL (2019) – das Archivmaterial zu einem Film, restauriert die Bilder mit modernen digitalen Techniken, um alle Spuren der Zeit zu tilgen, sodass das Gefühl entsteht, es mit aktuellen Bildern zu tun zu haben, und fügt nachträglich Töne wie etwa Stühlerücken, Papiergeblätter oder Applaus ein. Einige Teilnehmende des Symposiums irritierte diese Immersion und das Verschwinden der historischen Distanz, was Fragen nach der Vertrauenswürdigkeit der erzählenden Instanz evozierte.

Lindeperg stellte THE KIEV TRIAL in ein Spannungsverhältnis mit NUIT ET BROUILLARD (FR 1956) von Alain Resnais, der anders verfährt, die historische Distanz geradezu herausarbeitet und deutlich zwischen Archivbildern und eigenen Aufnahmen unterscheidet – und damit einen vorsichtigen, respektvollen Blick auf Archive als Spuren der Vergangenheit entwickelt. Dem stehe Sergei Loznitsas aktualisierende und selbst aufbereitete Präsentation des Materials gegenüber, das es scheinbar vergegenwärtigt und es konfrontativ in den Kontext aktueller politischer Ereignisse (des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine) stellt.
Das Sichtbarmachen filmkünstlerischer Entscheidung war eines der Themen, das sich durch alle Diskussionen des Symposiums zog.

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GLOSSAR

Austauschrunde über Schlüsselbegriffe zu dokumentarischen und juristischen Prozessen. Begriffssammlung: Alejandro Bachmann, Mirjam Baumert, Helan Darwish, Franca Pape, Elena Ubrig, Marja Vormann

Aus der Sitzordnung des Kinosaals, in dem das Symposium zum größten Teil stattfand, wechselten die Teilnehmenden für den Programmpunkt „Glossar“ ins Foyer. Immer zwei Teilnehmende saßen sich in einem Stuhlkreis für einen direkten Dialog gegenüber, ausgestattet mit einem Begriff, der diskutiert werden sollte.

Die Begriffe, die im Vorfeld von einer Gruppe Studierender (u. a. von der Kunsthochschule für Medien Köln) gemeinsam mit Alejandro Bachmann von der KHM und Mirjam Baumert vom Filmhaus Köln erarbeitet worden waren, stammten aus den Rechtswissenschaften, aus dem Bereich des Dokumentarfilms oder bezeichneten Verbindungen zwischen beiden Bereichen. Nach den intensiven Inputs durch Vortrag, Film und Diskussion war ein deutlicher Drang nach dialogischem Austausch spürbar, sodass sich der nach wenigen Minuten geplante Wechsel der Diskussionspartner:innen und Begriffe aufgrund lebhafter Gespräche beinahe schwierig gestaltete.

Wie bereits in den vorhergehenden Programmpunkten thematisiert, zeigte sich auch während des „Glossars“, wie sehr räumliche Anordnungen und Veranstaltungsformate den Modus des Denkens und Sprechens beeinflussen – und wie mächtig die festgelegte Sitzordnung, etwa des Kinos oder des Gerichtssaals, ist. Es war außerdem bemerkenswert, wie konkrete Begriffe wie „Stuhl“ und „Tisch“ ebenso schnell zu Fragen von Positionierung, Macht und Inszenierung führten wie abstraktere Begriffe wie „Autopoiesis“.

Auch dies verweist vielleicht auf Fragen des filmisch-dokumentarischen Arbeitens: Von den konkreten Bildern und Vorgängen unserer Welt führt die filmische Auseinandersetzung ebenso zu grundsätzlichen systematischen Fragen wie die von vornherein auf Reflexion angelegten akademischen oder juristischen Diskurse – und in den Gesprächen kam der Gedanke auf, ob sich diese Formen von Auseinandersetzung mit der Welt in ein Ergänzungsverhältnis setzen lassen.

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WIE EIN VERFAHREN DARSTELLEN, DAS MAN NICHT FILMEN DARF?

Filmgespräch zu LOVEPARADE – DIE VERHANDLUNG mit Antje Boehmert (via Zoom), Till Vielrose und Hajo Schomerus, Moderation: Mala Reinhardt

Zur Diskussion des Films LOVEPARADE – DIE VERHANDLUNG (DE/ES 2020) von Dominik Wessely waren die Produzentin Antje Boehmert per Zoom zugeschaltet und die Bildgestalter Till Vielrose und Hajo Schomerus vor Ort anwesend. Dominik Wessely musste seine Teilnahme aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig absagen.

Da in deutschen Gerichten bei Verhandlungen nicht gefilmt werden darf, konnten für den Film – abgesehen vom täglichen Einzug der Prozessbeteiligten in den Saal – vom eigentlichen Prozess zum Loveparade-Unglück (2010) keine Bilder aufgenommen werden. Wie also eine filmische Form finden für etwas, das man nicht abbilden darf? Dass der Saal des Duisburger Landgerichts für den Prozess verlegt und in der Düsseldorfer Messehalle provisorisch errichtet wurde, kam dem Filmteam zugute: Zwischen den Verhandlungstagen konnte der Raum inklusive Interieur angemietet und auf diese Weise etwa Bilder des menschenleeren Gerichtssaals, von Namenschildern und Mikrofonen eingefangen werden.

Da der Gerichtsprozess kein klassisches Ende im Sinne einer Verurteilung von Schuldigen hatte – das Verfahren wurde 2020, kurz vor Verjährung des Falls, mit der Begründung eingestellt, dass das Unglück „multikausal“ verursacht worden sei –, bestand das ganze Filmprojekt aus Annäherungen, durch die vor allem die Komplexität des Prozesses vermittelt werden sollte. Wie bei anderen Auseinandersetzungen mit Gerichtsprozessen, die beim Symposium besprochen wurden, wurde auch hier als eine solche Annäherung ein ausführliches Protokoll der Verhandlung hergestellt. Und zwar vom Filmteam selbst. Denn in Deutschland wird – zur Überraschung vieler Anwesenden – keineswegs jede Gerichtsverhandlung wortwörtlich protokolliert, sondern es werden oft nur kurze Notizen aufgezeichnet, etwa die Ankunftszeit von Zeug:innen. Die Filmemachenden beschrieben diesen Schritt des Dokumentierens als wesentlich, um den Gerichtsprozess überhaupt bearbeitbar und reflektierbar zu machen.

In der Diskussion rückte neben dem Verhältnis von dokumentarischen und juristischen Verfahren auch das Verhältnis zwischen Dokumentarfilm und journalistischer Arbeit in den Fokus. In diesem Zusammenhang äußerten sich die Filmemachenden ambivalent: Einerseits lehnten sie das schnelle Urteilen und die Suche nach einfach vermittelbaren Zusammenfassungen im Tagesjournalismus deutlich ab. Andererseits beschrieben sie etwa den Journalisten Benjamin Sartori, der auch im Film eine zentrale Rolle einnimmt, als verantwortungsvollen Chronisten der Ereignisse.

Aufgrund technischer Probleme gibt es von diesem Programmpunkt leider keine Tonaufnahme.

PUBLIKUMSDISKUSSION: Zwischengedanken zum ersten Tag

Die Abschlussdiskussion des ersten Tages drehte sich um die Frage, ob und inwiefern es sinnvoll sei, Audio- und Videoaufnahmeverfahren im Gerichtssaal zuzulassen, um Prozesse zu dokumentieren. Zeugt die gegenwärtige Praxis des Aufnahmeverbots vielleicht von einer Grundhaltung der Mehrheit der Gesellschaft, die nicht glaubt, die juristischen Institutionen überwachen zu müssen, weil man auf deren Unparteilichkeit und Gewissenhaftigkeit vertraut? Würde aber eine Dokumentation nicht konstruktiv-kritische Auseinandersetzungen mit diesen Institutionen fördern? Könnte sie vielleicht sogar das Vertrauen in die Gerichte und die Rechtsprechung stärken, wenn sie deren Gewissenhaftigkeit zeigt?

Es wurde die Hoffnung geäußert, die Aufnahme eines Prozesses, die allen zugänglich ist, könne Legitimation verleihen. Aber es wurde auch die Sorge laut, dass die mediale Aufzeichnung und Verarbeitung einen verzerrenden Fokus auf einzelne Momente setzen und dadurch der rechtliche Prozess in seiner Legitimation angegriffen werden könnte. Durch die audiovisuelle Aufzeichnung würde man zusätzlich in eine andere Form der Gerichtsbarkeit treten: die der (populären) medialen Verarbeitung. Eine wesentliche Verzerrung könnte daraus entstehen, dass der Zugriff auf die Bilder eine bestehende Wissensdifferenz ausblendet. Eine gefährliche Illusion, insofern die Zuschauenden ja nur in Bezug auf die filmisch präsentierten Ausschnitte in eine Beobachtendenposition treten, aber weder den ganzen Vorgang verfolgen können, noch eine ausführliche Recherche und Vorarbeit geleistet haben. Eine Illusion, aus der heraus der Eindruck entstehen könnte, man könne sich als Zuschauer:in ein informiertes und abschließendes Urteil bilden.
Zugleich aber gäbe es den langsam arbeitenden Dokumentarfilm, der wiederum mit diesen Aufnahmen und deren Kontextualisierung über den Rahmen des juristischen Verfahrens hinausgehen und einen erweiterten Blick einnehmen kann. Einem juristischen Verfahren geht es schließlich nicht um die Wahrheitsfindung im Allgemeinen, sondern um den einzelnen Fall, d.h. um das Fällen eines Urteils. Die Erforschung von Wahrheit findet also in dem Maße statt, in dem sie zur Urteilsfindung notwendig ist. Eine Grenze, die dem Dokumentarfilm nicht gesetzt ist.

„BEKLAGEN, ANKLAGEN, EINKLAGEN“ – Zivilgesellschaftliche Revisionen des NSU-Prozesses

Podiumsdiskussion mit Filmen und Lesung, Gäste: Alex Gerbaulet (via Zoom), Ayşe Güleç (via Zoom) und Kathrin Röggla, Moderation: Mala Reinhardt

Nach der abendlichen Sichtung von Philip Scheffners REVISION, der die Brücke zum zweiten Tag baute, an dem der Gerichtssaal recht schnell verlassen wurde, um sich alternativen Begegnungen von Dokumentarfilm, Wahrheitssuche und Rechtsprechung zu widmen, befasste sich das erste Panel mit dem NSU-Prozess und den vielgestaltigen künstlerischen Herangehensweisen und Ausdrucksformen der zivilen Intervention, mit der gegen richterliche Urteile sowie hegemoniale Wahrheiten und Narrative Widerstand geleistet wird.

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Kathrin Röggla las zu Beginn aus ihrem Roman „Laufendes Verfahren“, der den Prozess aufgreift und mit zwei wesentlichen Gestaltungsmitteln versucht, produktive Spannungspunkte aufzubauen: Der Roman ist nicht von einem „Ich“, sondern aus Perspektive eines „Wir“ erzählt, das selbst die große Frage stellt, aus wem es überhaupt besteht: dem „Volk“, in dessen „Namen“ das Gerichtsurteil ergeht, den Anwesenden auf der Empore des Gerichtssaals, oder einer ganzen Gesellschaft? Für Röggla ist dieses „Wir“ keine natürliche Gegebenheit, sondern ein abstraktes Konstrukt, das es – vor allem in einem Land, in dem Menschen aus rassistischen Motiven heraus umgebracht wurden (und werden) – zu befragen gilt. Da das Schweigen seitens der Behörden, Zeug:innen und Angeklagten, wie Röggla berichtete, das Zentrum des Prozesses bildete, erschien es ihr nur konsequent, eine naive (und teilweise unsympathische) Unwissenden-Perspektive einzunehmen. Weiterhin ist der Roman im Futur verfasst, der Prozess wird literarisch nicht als vergangener, sondern als zukünftiger erzählt, was in Anbetracht der getroffenen Vorhersagen und Unausweichlichkeit dessen, was geschehen wird, eine unheimliche Dimension eröffnet.
Röggla, die sowohl dem Untersuchungsausschuss in Berlin als auch dem Münchner Prozess teilweise beiwohnte, beschrieb ihre Recherchen als emanzipatorischen Prozess: Als sie den juristischen Kosmos betrat, bekam sie kontinuierlich die Welt und unabänderliche Notwendigkeiten erklärt. Doch ihr wurde klar, dass es weitaus mehr juristische Ermessens- und Entscheidungsspielräume gibt, als einem diese „herrschenden“ Erklärungen vermitteln, und dass das Rechtswesen eine fluidere und umkämpftere Konstruktion ist, als es den Anschein macht.

Ayşe Güleç, neben Alex Gerbaulet eine der Mitinitiator:innen des „Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen‘“, berichtete, wie begrenzend und regulierend sie den Gerichtsraum im Münchner NSU-Prozess wahrgenommen hat: Alles, was nicht unmittelbar einen Beitrag zur Gerichtsbarkeit darstellte, wurde ausgeblendet, zusätzlich richtete der Prozess den Blick auf eine geringe Anzahl von Angeklagten, anstatt Strukturen zu untersuchen – weder die Mechanismen der Ermittlungsbehörden noch strukturellen Rassismus (der Begriff Rassismus sei im gesamten Verfahren nicht einmal gefallen). Der Gerichtssaal erwies sich als Ort, an dem vorgeblich unparteiische juristische Mittel dazu verwendet wurden, wichtige Perspektiven – im konkreten Fall vor allem der Opfer und Angehörigen – auszublenden und die Betroffenen zum Schweigen zu bringen.

Alex Gerbaulet bekräftigte nicht nur die Relevanz der zivil angefertigten Prozessprotokolle als Wissensquelle für die Öffentlichkeit und nicht zuletzt für die Arbeit am Tribunal. Auch sie betonte die Marginalisierung der Betroffenen und Hinterbliebenen als initialen Impuls für das Tribunal, durch das vor allem ein Raum für eine „Gegenerzählung“ und das situierte Wissen der Betroffenen geschaffen werden sollte. Eine Blickverschiebung, bei der nicht nur das Sprechen, sondern auch das Zuhören fokussiert wurde.
Im ersten Tribunal 2017 am Schauspiel Köln standen die Analogien zwischen Theaterraum und Gerichtssaal im Zentrum, deren hierarchische Anordnungen es umzukehren galt, um eine Art von Untersuchung zu initiieren, die sich nicht auf juristisch zugelassene Beweismittel beschränkte, sondern mit „zivilgesellschaftlichen Forensiken“ arbeitete.

Nach der Sichtung von TIEFENSCHÄRFE (DE, 2017, R: Alex Gerbaulet und Mareike Bernien) und den beiden Tribunal SPOTS HOW MUCH STATE IS IN THE NAZI SCENE? und BEST COURT EVER sprach Gerbaulet über ihren 15-minütigen Film, eine der Vorarbeiten zum „Tribunal“, der die drei NSU-Morde in Nürnberg über deren Tatorte verhandelt: in den Alltag integrierte Orte, die nach der Tat als Erinnerungsorte umkämpft waren und deren Geschichte stetig neu (um)geschrieben wurde. Nach ihrer Lektüre der Protokolle und Akten schien den Filmemacherinnen die Rede vom „Ausblenden von Perspektiven“ oder „Silencing“ als Beschreibung für das Ermittlungsversagen viel zu schwach: Der Blick der Behörden habe mithilfe von fiktionalisierenden Mitteln gleichsam aktiv eine Parallelwelt konstruiert, in der die Perspektive der Betroffenen regelrecht vernichtet und rassistische Vorurteile als Wahrheiten gesetzt wurden.
Auf die Frage nach der Wirksamkeit der Interventionen konstatierte Güleç insofern eine Veränderung, als dass nach den Erfahrungen mit dem NSU und den damit einhergehenden zivilen Revisionen des Prozesses (struktureller) Rassismus gesellschaftlich besprechbar wurde.

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FOOTAGE AS PROOF: Aktivistische Investigationen institutioneller Gewalt

Experimentelles Kurzfilmprogramm mit Filmgesprächen, Gäste: Narges Kalhor (via Zoom), Volker Köster, Jyoti Mistry (via Zoom, Englisch), Moderation: Matthias Dell

Das experimentelle Kurzdokumentarfilmprogramm widmete sich Arbeiten, die das dokumentarische Bild als Evidenzmittel für ihre künstlerische Forschung heranziehen, um Wahrheiten, sozialpolitische (Miss-)Verhältnisse oder die Beweismacht der Bilder selbst zu problematisieren.

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Volker Köster stellte seine 30-minütige Arbeit WO FEUER IST, IST AUCH RAUCH (DE 2016) vor. Das 2016 aufgezeichnete und medial verbreitete Handyvideo von einem vermeintlichen Brandanschlag der Linken auf ein Polizeiauto in Paris sorgte für Schlagzeilen und trug mit dazu bei, dass sich die Unterstützung der Linken bei Protesten gegen die geplante Arbeitsmarktreform verringerte. Im Gespräch äußerte Volker Köster sein Misstrauen gegenüber diesen Bildern und ihrer Entstehung, das den Impuls gegeben hatte, den Vorfall mithilfe von alternativem Videomaterial aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Kösters ausführliche Untersuchung eröffnet eine andere Ebene der Interaktion – Vertrautheit der Polizist:innen mit einem Demonstranten, Gesten und Berührungen, die das Geschehen möglicherweise gelenkt haben – und somit auch andere Interpretationen des verbreiteten Narrativs. Neben Fragen um die Einschleusung eines Undercover-Polizisten, staatliche Manipulation und Propaganda sowie Verschwörungstheorien ging die Diskussion auch um die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Zeit im Arbeitsprozess von Dokumentarfilmer:innen: Die mediale Berichterstattung und die politische Lage bewegen sich schnell. Ein Film, der sich anhand solchen Materials mit Wahrheitssuchen auseinandersetzt, braucht jedoch Zeit und kann mit der Schnelligkeit journalistischer Bilder kaum konkurrieren.

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Auch Narges Kalhor entnimmt die Aufnahmen für ihre Found-Footage-Arbeit SENSITIVE CONTENT (DE 2022) der schnelllebigen Bilderflut der sozialen Netzwerke und überführt sie rekontextualisierend in den Kinoraum und somit in eine Rezeptionssituation, in der sie reflektiert werden können. Ihr Film besteht aus Handyvideos, in denen Iraner:innen die Gewalt und Brutalität dokumentieren, mit der die iranische Polizei landesweit gegen Protestierende vorgeht, die sich infolge der Ermordung von Jina Masha Amini gegen die autoritäre iranische Regierung stellen. Gezeigt werden nicht die Gewaltakte selbst, vielmehr wird in den zum Teil geblurrten Videos der Mut der unter Lebensgefahr Filmenden sicht-, hör- und spürbar.

Auch hier geht es um eine Diskussion des „Wir“: Im Abspann wird die „Kameraarbeit“ mit „People of Iran“ ausgewiesen, die Filmenden selbst sind in den meisten Aufnahmen (schon aus Schutz vor politischer Verfolgung) nicht identifizierbar, aber doch präsent. Auf die Publikumsfrage, für wen sie den Film gemacht habe, hat die per Zoom zugeschaltete, seit 15 Jahren in Deutschland lebende Künstlerin eine eindeutige Antwort: Die Menschen im Iran seien mit dem repressiven System schon lange vertraut. Ihr Film richte sich dezidiert an ein westliches Publikum, als Beweis, damit niemand behaupten könne, er habe von den Verbrechen nichts gewusst.

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Einen Prozess der Rekontextualisierung beschrieb auch die via Zoom zugeschaltete Künstlerin und Wissenschaftlerin Jyoti Mistry im Gespräch zu ihrem Film CAUSE OF DEATH (ZA/AT, 2020). Der Film besteht aus Aufnahmen aus dem Archiv des Filmmuseums Eye in Amsterdam, das Mistry auf die Repräsentation von Frauen sowohl in den Bildern als auch in den Metadaten hin untersucht hat. Der Arbeitsprozess von CAUSE OF DEATH lief in drei Schritten ab: 1. Eine Analyse der Kontextualisierung, die durch das Archiv über die lange Entstehungszeit des Films stattgefunden hat. 2. Eine Dekontextualisierung des Materials, in der es aus dieser ideologischen Ordnung herausgelöst wird. 3. Schließlich eine Rekontextualisierung in Mistrys filmischer Arbeit, in der das Material für einen Kommentar zur Geschichte und Gegenwart der vielfältigen Unterdrückungsmechanismen verwendet wird.

Im Zuge der Diskussion um die expliziten und gewaltvollen Bilder, die im Film gezeigt wurden, bezog Mistry klare Haltung: Für sie persönlich sei rassistische und koloniale Gewalt schon immer allgegenwärtig gewesen – und nie mit einer Warnung versehen. Entsprechend sei ihr wichtig, dass Gewalt in einer medialen Verarbeitung ebenso kompromisslos auftauchen kann.

HYBRIDE INSZENIERUNG VON ERINNERUNG UND GERICHTLICHEN SPRECHAKTEN

Filmgespräch zu ZECHMEISTER mit Angela Summereder, Moderation: Michelle Koch

Der Film ZECHMEISTER (AT 1981) ist ebenfalls wesentlich aus dem Archiv heraus erarbeitet worden. In Angela Summereders filmischer Studie des historischen Rechtsfalls um Maria Zechmeister, die 1948 ohne Beweise, ohne Geständnis, sondern aufgrund von Gerüchten und „Dorfgeschwätz“ für die Vergiftung ihres Gatten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, zeichnet die Filmemacherin die Wege der juristischen Untersuchung und Rechtsprechung nach. Bis auf zwei Szenen seien alle Dialoge den Akten des Kreisgerichts entnommen. Summereder näherte sich den patriarchalischen Strukturen in ihrem (und Zechmeisters) Heimatdorf sowie der kollektiven Verdrängung dieses Falls über die behördlichen Dokumente an.

Im Gespräch mit Michelle Koch beschrieb sie das Gefühl, beim Lesen der Akten juristischen Ritualen beizuwohnen, die ein bereits feststehendes Urteil rechtfertigen sollen. In der Rekonstruktion sei deutlich geworden, wie eng die rechtliche Perspektive gesteckt ist und was diese alles nicht leisten kann – etwa eine angemessene Einschätzung von zwischenmenschlichen Beziehungen, die das Urteil wesentlich infrage stellen. Summereder betonte, dass es ihr bei ZECHMEISTER nicht um die Aufdeckung eines Justizirrtums gegangen sei, sondern um eine kritische und nicht zuletzt feministische Betrachtung von intendierten Funktionsweisen der Justiz, die im Dienst von diskriminierenden Gesellschaftsstrukturen stehen: Die aus dem Krieg zurückkehrenden Männer, die an tradierten Machtverhältnissen und der alten (Geschlechter-) Ordnung festhalten wollten, bestraften mit Maria Zechmeister eine Frau, die sich in deren Abwesenheit Unabhängigkeit aufgebaut hatte.

Summereder beschrieb ihre Suche nach einer filmischen Form, mit der die konkrete Geschichte über den Einzelfall hinausweisen kann. Diesem Impuls folgend seien immer mehr Elemente und Ebenen eingeflossen, die sich zwischen Ästhetisierung, Stilisierung und Fiktionalisierung bewegen, wie beispielsweise das Auseinanderfallen von Bild und Ton.

In seiner hybriden Form, dem Rückgriff auf Lai:innen und Schauspieler:innen, dem Changieren zwischen österreichischem Dialekt und gestochenem Amtsdeutsch, zwischen Dokumentcharakter und absurden Irritationselementen, versucht der Film nicht, ein juristisches Verfahren nachzuvollziehen, sondern sich diesem widerständig gegenüberzustellen und es zu kontextualisieren.

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TRUE CRIME FÜRS FERNSEHEN – Wahrheitssuchen in den öffentlichen Medien

Podiumsdiskussion mit Johanna Behre, Regina Schilling, Marie Wilke (via Zoom) und Ausschnitten aus HÖLLENTAL (Marie Wilke, DE 2021, ZDF, 276’, Deutsch), DIESE SENDUNG IST KEIN SPIEL – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann (Regina Schilling, DE 2023, ZDF, 87’, Deutsch), MORD, MACHT, MEDIEN. DER FALL JENS SÖRING (DE 2023, ARD, 110’, Deutsch), Moderation: Matthias Dell

Im letzten Panel widmeten sich Regina Schilling, Marie Wilke und Johanna Behre unter der Moderation von Matthias Dell dem Phänomen True Crime und erläuterten anhand dreier Ausschnitte aus ihren aktuellen Arbeiten ihre dokumentarische Annäherung an reale Verbrechen.

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Regina Schillings essayistischer Dokumentarfilm DIESE SENDUNG IST KEIN SPIEL – DIE UNHEIMLICHE WELT DES EDUARD ZIMMERMANN (DE 2023) reflektiert anhand von Archivmaterial der Fernsehsendung „AKTENZEICHEN XY … UNGELÖST“ (DE 1967–1997) und einem Voice-over-Text, wie Eduard Zimmermann durch scheinbare Verbrechensaufklärung und die Abbildung vermeintlicher Realitäten gezielt Desinformationen und Angst verbreitete und somit zur Stabilisierung einer konservativ-patriarchalen Gesellschaftsordnung beitrug: Sexualmorde an Frauen verbunden mit offensivem Victim Blaming nahmen nicht nur einen auffällig großen Raum in der Sendung ein, die Reenactments der Gewaltverbrechen wurden auch mit den gleichen Mitteln inszeniert, wie sie etwa im „Tatort“ oder in anderen fiktiven Fernsehformaten verwendet werden. Zimmermanns Warnungen an die Zuschauenden, besonders an junge Frauen, sorgten dafür, dass etwa Trampen oder der abendliche Bar- und Diskobesuch für Frauen angstbesetzt waren. Dank des hohen pädagogischen und präventiven Werts, der der Sendung zugeschrieben wurde, gingen Zimmermanns antiaufklärerische und antiemanzipatorische Taktiken, mittels derer konservative Werte und „Wahrheiten“ gesellschaftlich implementiert wurden, auf.

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Regisseurin Marie Wilke beschrieb den Aspekt des Geschichtenerzählens als ihr zentrales Interesse an der Serie HÖLLENTAL (DE 2021), die den bis heute unaufgeklärten Kriminalfall um Peggy Knobloch umkreist, die 2001 am helllichten Tag in einem Dorf in Oberfranken spurlos verschwand und deren Leiche 2016 in einem nahegelegenen Waldstück gefunden wurde. Wilke ging es mit ihrer Serie nicht um eigene Investigationsversuche, sondern darum, eine filmische Form für die medialen und sozialen Dynamiken zu finden, die der Fall in Gang setzte: Um zu erklären, was nicht unerklärt bleiben durfte, wurden von allen Seiten Geschichten erzählt, die immer weiter wucherten, aber nicht zur Wahrheitsfindung beitrugen, sondern vielmehr die tiefsitzenden Ängste und Vorurteile der Menschen sichtbar machten, die diese Geschichten streuten. Entsprechend standen bei diesen oft in die Irre führenden Ermittlungen Menschen mit Migrationshintergrund und weitere marginalisierte Gruppen unter Vorverdacht. In Wilkes Sechsteiler, der vor allem aus klassischen Interviews und aus Aufnahmen menschenleerer, zeitentrückter Orte des Geschehens besteht, wird viel erzählt, konsequenterweise liefert er aber keine Auflösung, sondern nur Unstimmigkeiten und weitere Fragen.

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Wie Johanna Behre ausführte, beschäftigt sich auch die von ihr gemeinsam mit Alice Brauner produzierte und auf einem minutiös recherchierten Podcast fußende Miniserie MORD, MACHT, MEDIEN. DER FALL JENS SÖRING (DE 2023) weniger mit der Evidenz von Schuld oder Unschuld, als vielmehr mit der Mediengeschichte des Falls um den deutschen Studenten Jens Söring, der 1990 für den von ihm gestandenen Mord an den Eltern seiner damaligen Partnerin von einem US-Bundesgericht in Virginia zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt wurde und sein Geständnis nach Jahren zurückzog, um seine Partnerin zu belasten. Zwei Besonderheiten trieben die mediale Dynamik um den Fall besonders an: Die Hauptverhandlung wurde als einer der ersten Prozesse umfassend und live im amerikanischen Fernsehen übertragen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit und die Menge an filmischem Material, das weiterverarbeitet werden konnte. Darüber hinaus arbeitete Jens Söring während seiner 33 Jahre langen Haft und auch nach seiner Auslieferung an Deutschland gemeinsam mit seinem sogenannten „Freundeskreis“ (darunter Politiker, Medienpersönlichkeiten, die SZ-Journalistin Karin Steinberger und der Filmemacher Marcus Vetter, die gemeinsam den Dokumentarfilm DAS VERSPRECHEN über den Fall realisierten) aktiv an einem Unschuldsnarrativ und der Diskreditierung von Gegenstimmen, bis u.a. der amerikanische, in Düsseldorf lebenden Anwalt Andrew Hammel begann, auf Widersprüche der Geschichte hinzuweisen.

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In der Diskussion machte Regina Schilling darauf aufmerksam, dass Sörings Schuld nie bewiesen wurde, auch wenn die Serie darauf hinauslaufe, woraufhin Matthias Dell ergänzte, dass er es – im Gegensatz zum freigesprochenen Justizopfer Ulvie im Fall Peggy – nicht geschafft habe, das rechtskräftige Urteil zu revidieren, wohl aber, dass eine breite Öffentlichkeit dieses Urteil in Zweifel gezogen habe. Dell stellte nochmals heraus, dass die Gemeinsamkeit der drei Arbeiten darin liege, dass sie die Verbrechen anhand der Medien erzählen, die nach Wilke als „Brandbeschleuniger“ solcher Geschichten funktionieren, weil sie diese an Bildern aufhängen. Ohne das Foto des Mädchens mit den strahlend blauen Augen hätte der Fall um Peggy nicht die gleiche Reichweite gehabt. Und auch das mediale Bild, das von Söring produziert wurde – nett, gebildet, mehr oder weniger attraktiv –, habe ihm, ebenso wie die Hilfe Prominenter, einen Vertrauensbonus verschafft.

Das Gespräch beschäftigte sich außerdem mit der grundsätzlichen Frage, inwieweit die Filmemacherinnen ihre Arbeiten selbst im True-Crime-Genre verorten. Schilling verstand, dass ihr Film diese Verortung durch den Zimmermann-Bezug nahelege, dass sie selbst ihn dort aber nicht beheimatet sehe. Wilke betonte, dass es dieses Label im deutschen TV noch nicht gegeben habe, als das Kleine Fernsehspiel das Angebot machte, eine Dokuserie zu produzieren. Bei Behre, deren Serie explizit für die ARD True-Crime-Reihe produziert wurde, lag die Nähe auf der Hand, sie sei aber überrascht gewesen, wie frei sie sich schließlich in diesem Genre habe bewegen können. Aus dem Publikum kam die Frage, inwieweit bei der Konzeption der Arbeiten eine Auseinandersetzung mit den Formaten des True Crime bzw. ein bewusstes Arbeiten gegen dessen konventionelle Inszenierungsstrategien stattgefunden habe, die die Betrachter:innen mehr oder weniger direkt dazu aufordern, sich zu einem Urteil hinreißen zu lassen, weil sie glauben, sie wären dazu befähigt. Wilke kam nochmals zu ihrer Absicht zurück, mit der Inszenierung von Augenzeugenberichten und Erzählungen immer wieder Widersprüche in der Urteilsbildung hervorzurufen, um diese unbewussten und von den Medien evozierten Mechanismen reflektierbar zu machen.

Abschließend resümierte Dell die Qualität jener True-Crime-Formate, die aus konventionellen Inszenierungen herausfallen und anders auf die Realität blicken – die drei besprochenen Arbeiten begreift er als solche Beispiele – darin, dass sie im gelungensten Fall dazu anregen, die Verbrechen (und zum Teil bereits gefällten Urteile) neu zu sehen oder sogar etwas zu ermitteln, um medial verbreitete „Wahrheiten“ und Mythen umzuschreiben.

Schlussgedanken

Nach einem intensiven zweiten Tag wurden beim abschließenden Gespräch im Foyer einzelne Aspekte des Symposiums resümiert.
Es kam die interessante Frage auf, ob die geeignete Form für die Reflexion des Juristischen im Kino ob seiner Bühnenhaftigkeit weniger im Dokumentar- als im Spielfilm zu finden sei und ob inhaltliche Revisionen der Justiz nicht eigentlich im Feld des Investigativjournalismus zu verorten seien. Der darin aufscheinende Versuch einer Hierarchisierung von filmischen Formen und Medien – die sich, wie der Formenreichtum und die unterschiedlichen künstlerischen Zugänge des Programms zeigten, gegenseitig nicht ausschließen – wurde in der Diskussion rasch an den Rand gedrängt und der Fokus auf die Potenziale des Dokumentarfilms gerichtet, dessen Funktion sich weder in der Dokumentation von Gerichtsverhandlungen erschöpft noch in einer Fundamentalkritik an juristischen Verfahren.

Das Gespräch kam erneut auf die mehrfach thematisierten gerichtlichen Regularien zurück, die bei juristisch verhandelten Wahrheitssuchen den Blick auf bestimmte Realitäten verengen. Die Frage, was im Gerichtssaal sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne Raum hat, wurde einerseits deskriptiv (was hat dort Platz?), aber auch normativ (was sollte dort Platz haben?) diskutiert. Der Dokumentarfilm bietet eine Möglichkeit, diesen Begrenzungen entgegenzuwirken, die Wirklichkeiten und Wahrheiten, die in der juristischen Urteilsfindung und Rechtsprechung verhandelt werden oder in diesen Aushandlungen eben keinen Platz finden, zu erweitern, zu ergänzen, überhaupt sichtbar zu machen, neu zu kontextualisieren und in die Welt zu tragen.

Der Dokumentarfilm wie das Rechtswesen hinterlassen den Eindruck eines (großen) (Macht-)Apparats mit einer Vielzahl von Werkzeugen, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich und mit unterschiedlichen Interessen verwendet werden. Und die klassischen Fragen „Wer macht diesen Film?“ bzw. „Wer spricht dieses Urteil?“ und „für wen?“ und „mit welcher Haltung?“ bildeten auch im Rahmen dieser Tagung die Angelpunkte differenzierter Reflexionen in den umkämpften politischen und künstlerischen Prozessen der Urteilsbildung und des Bilderfindens.

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Pressezitate

Anders als das formal streng geregelte Verfahren der Justiz ringt die gelungene dokumentarische Suche um den angemessenen Weg und Formen zur Wahrheitsfindung.
Silvia Hallersleben in: epd-film

Das Symposium, kuratiert von Michelle Koch, lenkte seine Aufmerksamkeit bewusst in mannigfaltige Richtungen, spielte mit verschiedenen Formaten und Herantastungen. Die zusammengetragenen Perspektiven erhellten, demonstrierten aber zuverlässig auch die Komplexität des Gegenstandes: Zwischen Wahrheitssuche und -verschleierung, versuchter Sachlichkeit und Anprangerung, Manipulation und Investigation ist alles möglich. Ein einziger Tatbestand zwingt Menschen in Rollen, macht sie zu Opfern oder Beschuldigten, Verteidigern oder Skeptikern.
Carolin Weidner in: taz

Die Bandbreite reichte von historischem Filmmaterial zu aktuellen True Crime-Fernsehformaten. Während Sergej Loznitsa für »The Kiev Trial« (2022) Archivmaterial des Kiewer Prozesses von 1946 montierte, drehten sich andere Projekte um den Umgang mit der Abwesenheit von Bildern aus Gerichtssälen. Aber was ist mit Erfahrungen, die vor Gericht ohnehin nicht sichtbar werden, Kamera hin oder her? Projekte wie »NSU-Komplex auflösen« besetzen diese Leerstellen, indem sie das Erleben der Angehörigen in den Mittelpunkt stellen und eine offene, postmigrantische Gesellschaft einklagen. Dieser Arbeit widmete das Symposium ein eigenes Panel mit der für experimentelle und dokumentarische Arbeit wesentlichen Frage: Ob und inwiefern ist die Fiktion ein geeignetes Mittel, um der Wahrheit nahe zu kommen?
Eva Königshofen in: FilmMedienStiftungMagazin

Neben Überschneidungen zwischen juristischen und dokumentarischen Verfahren, die in der akribischen Recherche mit dem Ziel der Wahrheitsfindung liegen, schälten sich in Köln auch Unterschiede heraus. Anders als die Justiz – oder auch Spielfilme und fiktionale Serien nach Whodunit-Muster – steht in dokumentarischen Formaten selten die Schuldfrage im Zentrum. Wichtiger ist oft der Anspruch, Opfern und ihren Angehörigen eine Stimme zu verleihen.
Maxi Braun, in: choices, KULTUR.KINO.KÖLN